J. Gordon Melton, einer der weltweit führenden Wissenschaftler der Gegenwartsreligion, erklärt im Interview die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen, die der Tradition des chinesischen Protestantenpredigers Watchman Nee folgen.
Massimo Introvigne
J. Gordon Melton ist zurzeit Ehrenprofessor für Amerikanische Religionsgeschichte am Institut für Religionsstudien an der Baylor-Universität in Waco (Texas). Sein Name ist denjenigen vertraut, die sich für den religiösen Pluralismus der USA interessieren. Außerdem ist er einer der Gründungsväter der wissenschaftlichen Untersuchung neuer Religionsbewegungen. In den vergangenen Jahren hat er sein Augenmerk besonders auf die Religionen in China gerichtet. Seit mehr als vierzig Jahren untersucht er die Bewegungen, die sich aus der Tradition der chinesischen Geistlichen Watchman Nee (1903-1972) und Witness Lee (1905-1997) entwickelt haben. Diese Bewegungen sind in China und im Ausland unter verschiedenen Namen bekannt und wir haben Professor Melton daher gebeten, sie unseren Lesern zu erläutern.
Wir werden diese Gruppe von Kirchen hier einfach als „Die Watchman Nee-Tradtition“ bezeichnen. Wie können wir sie definieren?
Als internationale, evangelikal-christliche Tradition, die in den 1920ern in China entstanden ist und sich durch ihren Glauben dadurch auszeichnet, dass es nur eine einzige aktive christliche Kirche in jeder Stadt geben sollte (als ein Tadel in Bezug auf die Rivalitäten unter den unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften). Die Tradition entwickelte sich aus den Lehren des Watchman Nee, einem chinesischen Christen, der stark von den Plymouth Brethren beeinflusst worden war. In den 1930ern schrieb Nee mehrere Bücher über seinen Glauben und gründete überall in China Kirchen. Seine Sichtweise entsprach der evangelikal-christlichen, doch er glaubte, dass das Neue Testament lehre, dass in jeder Stadt nur eine Kirche institutionalisiert werden dürfe, um der Einheit der Kirche Ausdruck zu verleihen. Nach Errichtung des kommunistischen Regimes missbilligte die KPCh Nees Tätigkeiten und stellte ihn unter Überwachung. Aus diesem Grund wurde er aus Shanghai verbannt und später, 1952, für den Rest seines Lebens ins Gefängnis gesperrt.
Welche Verbindung besteht zwischen dem Watchman Nee und dem Witness Lee?
1948 entsandte Nee einen der Kirchenältesten, Witness Lee, nach Taiwan, damit dieser die Mission dort leite. Unter Lees Leitung blühte die Kirche auf und verbreitete sich in die Nachbarländer und bis in die Vereinigten Staaten. Dort zog sie Angehörige der chinesisch-amerikanischen Gemeinden und später Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung an. 1962 zog Lee nach Kalifornien, wo er das Living Stream Ministry gründete, das Veröffentlichungsorgan der Bewegung. Damit konnte er durch seine eigenen Schriften und Lehrtätigkeiten den ansonsten autonomen Gemeinden der Bewegung leichter seine Führung anbieten. Die Lehren der Bewegung stammen aus den Schriften von Nee und Lee, die vom Living Stream Ministry veröffentlicht werden.
Die Gruppe war in den 1970ern und um 1980 herum etwas umstritten, nicht wahr?
Während der 1970er endete die einst herzliche Verbundenheit zwischen der allgemein als Lokalkirche (d.h. Lees Gruppe in den USA) bezeichneten Gruppe und der größeren evangelikal-christlichen Gemeinde. Evangelikale Führer warfen der Lokalkirche vor, ihnen Mitglieder zu stehlen, unorthodoxe Ansichten über die Dreifaltigkeit zu lehren und verschiedener „sektiererischer“ Praktiken zu frönen. Christliche Autoren nahmen die Lokalkirche in Bücher über Sekten auf. Eines dieser Bücher, das von dem in Berkeley (Kalifornien) ansässigen Spiritual Counterfeits Project veröffentlicht wurde, führte 1985 zu einem Rechtsstreit wegen Verleumdung und einem mehrere Millionen Dollar-Urteil zugunsten der Lokalkirche. Diese Klage beendete die Verleumdungen der Bewegung durch die Evangelikalen im Großen und Ganzen und die Lokalkirche verfolgt ihre Arbeit im Westen seither ohne viel Aufhebens oder Kontroversen.
Nun wird es schwieriger mit der Benennung dieser Kirchen und das Ganze wird dadurch noch komplizierter, dass Watchman Nee Tradition sich in verschiedene konkurrierende Untertraditionen aufgespalten hat…
Die Frage, wie man die unterschiedlichen Splittergruppen der von Watchman Nee initiierten Bewegung benennen soll, hat mich die letzten drei Jahrzehnte, besonders aber die letzten drei Jahre lang beschäftigt. Eine Antwort ist immer noch nicht leicht zu finden, da Nee seiner Gemeinde hatte keinen Namen geben wollen – eine Sichtweise, die er von der Brüderbewegung und dem britischen Evangelisten Theodore Austin-Sparks (1888-1971) übernommen hat. Er entwickelte auch eine Art von Kirchenregierung für die Gemeinde, wobei die Bewegung im Großen und Ganzen von seiner charismatischen Autorität zusammengehalten wurde. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass der Grund für den Bruch mit der Brüderbewegung seine Beziehung zu Austin-Sparks war. Weil er mit der Honor Oak Fellowship, deren Pastor Austin-Sparks war, Brot gebrochen (d.h. das Abendmahl gehalten) hatte, exkommunizierte die Brüderbewegung ihn.
Nees Bewegung wurde unterschiedlich benannt, manche bezeichneten sie als Kleine Herde (ein Name, der von ihrem Gesangsbuch herrührt), Christliche Versammlung oder Church Assembly Hall. Der Name Lokalkirche kam auf, als Nee die Lehre verkündete, dass jede Stadt nur eine einzige Kirche haben solle.
Witness Lee zog die Bezeichnung „Versammlung“ (召会) der Bezeichnung „Kirche“ vor und seine Bewegung war in China und im Ausland ursprünglich als „die Versammlung“ bekannt. Da sie sich jedoch als legitime Erbin von Nees Gruppe betrachtete, verwendete er auch den Namen „Lokalkirche“, der im späten 20. Jahrhundert dann bevorzugt verwendet wurde, insbesondere in den USA. Außerdem wurde der Name „Die Wiedererlangung des Herrn“ verwendet, denn die einzigartigen Praktiken, die die Gruppe ausübte, beruhten auf der Vorstellung, dass sie etwas wiedererlangt habe, was die größere christliche Bewegung über die Jahrhunderte verloren hatte.
Man kann sagen, dass sich bis 1980 drei Splittergruppen der Nee-Bewegung in China entwickelt hatten. Eine Gruppe von Nees Anhängern schloss sich der staatlich kontrollierten patriotischen Drei Selbst-Bewegung an, da sie diese Drei Selbst-Bewegung in ihrer Art als Lösung für die konfessionelle Spaltung ansahen, die Nee solche Sorgen bereitet hatte. Schließlich hatte die Drei Selbst-Bewegung alle Arten von protestantischen Christen zusammengebracht. Eine zweite Gruppe blieb unabhängig von der Drei Selbst-Bewegung und der KPCh. Diese Gruppe war unter zahlreichen Namen bekannt – darunter auch Kleine Herde und Assembly Hall-Bewegung (ein Name, den David Barrett (1927-2011) in seiner World Christian Encyclopedia verwendete). Die dritte Gruppe zeichnete sich dadurch aus, dass sie die charismatische Autorität von Witness Lee, dem von Nee auserkorenen Nachfolger, anerkannte und sich Lees neue Lehren und Praktiken zu eigen machte.
Da in China ein Teil von Nees Anhängern die Lehren Lees anerkannte, während der andere Teil sie ablehnte, kam es zu einer Unterscheidung zwischen der „alten Lokalkirche“ (Laodifangjiaohui, 老地方教会), welche die Lehren Nees anerkannte, aber jene von Lee ablehnte, und der „neuen Lokalkirche“ (Difangjiaohui, 地方教会), Lees eigener Organisation.
Ich stieß zum ersten Mal auf Lees Bewegung, als diese in den USA die Bewegung von Watchman Nee fortführte, und meistens den Namen Lokalkirche verwendete. Nees Bücher wurden auch von einer Gruppe von Evangelikalen verbreitet, die nicht zu den Nee-Gemeinden gehörten, sondern seine Bücher in verschiedenen Glaubensgemeinschaften, die auf Keswick ausgerichtet waren, verwendeten, darunter unter anderem die Offene Brüderbewegung. Außerdem gab es mehrere Gemeinden in den USA, die in direktem Zusammenhang mit Austin-Sparks standen (und in diesem Jahrhundert alle verschwunden sind).
In China entwickelten sich am Ende der Kulturrevolution die drei Splittergruppen. Zur Zeit der Revolution war Nees Bewegung die größte protestantische „Glaubensgemeinschaft“ gewesen und viele davon blieben Nee während der Jahre seiner Gefangenschaft und auch nach seinem Tod treu. Währenddessen musste Lees Bewegung außerhalb von China mit anderen Regierungen zurechtkommen (besonders mit denen von Taiwan und den USA) und Möglichkeiten finden, unter deren Gesetzgebung bestehen zu bleiben. In Taiwan herrschte Kriegsrecht und in den USA ein System, das es befürwortete, dass sich religiöse Gruppen in Form von Non-Profit-Unternehmen organisierten. Als wir versuchten, einen Angriff gegen sie abzuwehren, den der baptistische Anti-Sekten-Aktivist Walter Martin (1928-1989) unter dem Vorwurf, es handele sich dabei um eine „Sekte“, gestartet hatte, mussten wir ihre Leitung in den USA fragen, wie sie sich überhaupt nannten.
Können Sie den Begriff „Wiedererlangung des Herrn“ näher erläutern?
Dieser Begriff wurde in der Gruppe von Lee verwendet. Lees Problem bestand darin, seine neuen Lehren einzuführen und gleichzeitig seinen Anspruch auf die Nachfolge Nees aufrechtzuerhalten. Dies gelang ihm durch die Idee von der Wiedererlangung des Herrn. Er entwickelte eine Geschichte, die im Wesentlichen besagt, dass die Kirche im biblischen Sinne in der nachapostolischen Zeit verloren gegangen sei, hauptsächlich während der Zeit Konstantins. Laut Lee begann die Wiedererlangung der Kirche im biblischen Sinne mit Martin Luther (1483-1546) und wurde unter verschiedenen Kirchenführern, darunter John Wesley (1703-1791) bis hin zur Brüderbewegung fortgesetzt. Nee hatte bedeutend zu dieser Wiedererlangung beigetragen und Lee sah sich selbst als jemanden, der weiterführte, was Nee begonnen hatte. Er griff Nees Lehre von der Lokalkirche auf und bezeichnete seine Gemeinden als „Lokalkirchen“, um der Situation in den USA gerecht zu werden, wo er ständig von unterschiedlichen Seiten gefragt wurde, wie die Gruppe bezeichnet werden sollte. Dies führte zu Verwirrung, da der Begriff „Lokalkirche“ sowohl von der Gruppe verwendet wurde, die Lees Anspruch auf die Nachfolge Nees zurückwies, als auch von der Gruppe, die diesen Anspruch anerkannte. Wahrscheinlich wird Lees Gruppe im Westen weiterhin als „Lokalkirche“ und in China als „Versammlung“ (召会) bezeichnet werden, da in China der Name „Lokalkirche“ gemeinhin für Kirchen verwendet wird, die der Nee-Tradition verbunden sind, aber Lee nicht anerkennen.
Aber in China ist die Lee-Bewegung, oder zumindest Teile davon, auch als „Schreier“ (呼喊派) bekannt. Macht das eine Antwort auf diese Frage nicht sehr schwierig?
In der Tat. Das Problem in China wurde zusätzlich dazu noch komplizierter, weil die christliche Bewegung während der Jahre der Kulturrevolution nur im Untergrund weiterbestehen konnte und es keinerlei kirchliche Autoritäten für die lokalen Gemeinden gab. Alles beruhte auf der charismatischen Autorität verschiedener Führer. Was die Lokalkirchen anbelangt, so war Nee verstorben und Lee hatte keine Möglichkeit, nach China zu reisen.
Anfang der 1980er-Jahre versuchte die reinstitutionalisierte Drei Selbst-Bewegung ihre Autorität wiederherzustellen, was zwei Vorfälle zur Folge hatte, welche die Behörden dazu brachten, die Gruppe des Zeugen Lee als „die Schreier“ zu bezeichnen – ein Ausdruck der daher rührte, dass diese bei ihren Gottesdiensten laut „den Namen des Herrn riefen“. Da Lees Tradition eine konfessionelle Selbstbezeichnung generell ablehnte, blieb der Name „Schreier“ an der Gruppe haften. Tatsächlich wurde diese Bezeichnung sogar auf verschiedene Gruppen der Hauskirchenbewegung ausgeweitet, besonders auf Gruppen, die in einen Konflikt mit der chinesischen Regierung gerieten.
Die Schreier wurden 1983 zur xie jiao („heterodoxen Lehre“) erklärt und verboten – lange bevor die offizielle xie jiao-Liste 1995 angelegt worden ist. Interessanterweise sind die Schreier, nicht aber die Lokalkirche, weiterhin als xie jiao verboten. Das bedeutet, dass die Gruppen Nees, die Lee nicht anerkennen, nicht als xie jiao betrachtet werden, sondern als Teil der nicht registrierten christlichen Gemeinden, die das inoffizielle Christentum ausmachen und wegen derer die Regierung so besorgt ist. Da wir es mit einem Netzwerk unabhängiger Gemeinden zu tun haben, die sich untereinander stark unterscheiden, sollte – oder wird – die Auflistung als xie jiao eines Tages dahingehend verstanden werden, dass diese sich nur auf bestimmte Gruppen Lees bezieht und nicht auf alle. Da den als xie jiao eingestuften Gruppen in China aktuell sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, gestaltet es sich als ausgesprochen schwierig, Prognosen zu stellen.