Yosef Roth ist ein Jude, der überzeugt davon ist, dass er als jüdischer Gläubiger versuchen muss, das Leid der unterdrückten Muslime zu lindern. Zusammen mit Corby Johnson gründete er die „Uyghur Rally“.
Marco Respinti
Wenn eine religiöse Gruppe aus atheistischer Bigotterie verfolgt wird, dann ist ihr schlimmster Feind oft eine Gruppe mit einer anderen religiösen Überzeugung. Es ist traurig, aber wahr, dass Rivalitäten und innere Kämpfe allzu häufig zu Kurzschlussreaktionen, Verrat und Mittäterschaft führen, was unvermeidlich damit endet, dass die Unschuldigen bitter leiden müssen. Das ist moralisch verwerflich und strategisch kurzsichtig, wenn man bedenkt, dass die unsterblichen Worte des deutschen, evangelischen Pastors Martin Niemöller (1892-1984) in seinem berühmten Gedicht im heutigen China wieder neu an Bedeutung gewonnen haben und weiterhin gültig sind.
Andererseits erreichen uns bei Bitter Winter täglich kleine, aber stärkende Nachrichten, die uns trösten. Wir erleben eine Realität, in der – auch wenn sie nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtbildes darstellt – Angehörige unterschiedlicher Religionsgruppen und sogar Atheisten in einem kleinen Hafen aufrichtig zusammenarbeiten, für einander Zeugnis ablegen und Seite an Seite den gleichen Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpfen. Papst Franziskus, der nicht nur für Angehörige des römisch-katholischen Glaubens eine moralische Instanz darstellt, hat oft von einer „aus Blut geschmiedeten Ökumene“ gesprochen. Das bedeutet konkret, dass wahre geschwisterliche Zugehörigkeit spontan zwischen Menschen entsteht, die das gleiche Schicksal teilen – sei es Leid, Schikane, Folter oder sogar Tod. Es gibt keinen besseren Ausdruck, um unsere gemeinsame und weithin anerkannte Arbeit bei Bitter Winter zu beschreiben. Natürlich muss das Blut der Märtyrer nicht immer im physischen Sinne vergossen werden. Es reicht aus, wenn die Arbeit mit Herzblut verrichtet wird.
Aber das Beste kommt noch, wie es einige andere wichtige Entwicklungen zeigen.
In London sind vor kurzem Juden aufgestanden und haben ihre Stimme gegen den kulturellen und ethnischen Völkermord erhoben, der eine andere ethnische und religiöse Gruppe auszumerzen droht. Eine ganz andere. Die uigurischen Muslime. Die Juden haben ihre allen bekannte Tragödie, die ethnische Säuberung während der Shoa, erlebt. Doch diese Londoner Juden haben Kummer und Wut nicht eifersüchtig für sich selbst gepachtet, so als seien sie die Einzigen, die leiden dürften, oder als sei ihr Leiden auf irgendeine Art wichtiger als das Leiden anderer. Eher im Gegenteil: Sie sind sich sehr bewusst, dass jeder Völkermord einzigartig ist, und können sich nicht damit abfinden, die Welt brennen und andere dem Untergang geweiht zu sehen. Unsere Leser werden diesen hingebungsvollen und leidenschaftlichen Einsatz zu schätzen wissen. Juden verteidigen Muslime: Das geschieht nicht jeden Tag, aber wenn es geschieht, dann ist es ein deutlicher Silberstreifen am Horizont.
Die Geschichte der beiden Herren Roth und weitere Heldentaten
Dieses Gänsehautgefühl überfiel mich auch, als ich vor kurzem am Telefon mit Yosef Roth sprach. Er ist nur ein paar Buchstaben von dem ausgezeichneten österreichischen Schriftsteller Joseph Roth (1894-1939) – dem Minnesänger des sterbenden Habsburger Reichs – entfernt. Dieser war fasziniert davon gewesen, wie es dem römisch-katholischen Reich gelungen war, die vielen unterschiedlichen Völker, Religionen und Kulturen wie ein Vater zu einer Familie zu vereinen. Ein anderer berühmter Jude aus Österreich war Dr. Thomas Chaimowicz (1924-2002) – ein feinsinniger Rechtsphilosoph, der heute auf dem Friedhof im Salzburger Stadtteil Aigen begraben ist: Dieser betete – wobei er seine Kippah trug – gemeinsam mit seiner römisch-katholischen Frau für das römisch-katholische Habsburger Reich, weil es, wie er sagte, die Juden beschützte.
Unser Yosef Roth ist aber ein US-Bürger und lebt in New York City. Auch er ist überzeugt, dass die Juden andere geplagte Religionen vor Verfolgung schützen müssen. Was aber wirklich erstaunlich ist, ist die Tatsache, wen Roth verteidigt: Trotz aller historischen Spannungen zwischen den beiden Gruppen, ganz zu schweigen von den grundlegenden theologischen Differenzen, verteidigt er öffentlich die Uiguren – und deren Religion ist natürlich der Islam.
Das ist das erste, was an seiner Geschichte erstaunt. Das zweite Erstaunliche ist, dass Roths Haltung nicht einfach einer oberflächlichen, vom Zeitgeist abhängigen oder sogar dummen „Friede-Freude-Eierkuchen“-Einstellung geschuldet ist, sondern seiner tiefen Überzeugung entspringt, dass sein jüdischer Glaube wahr und nicht mit anderen austauschbar ist. Das ist genau das, was die uigurischen Muslime auch über den muslimischen Glauben denken. Roth sagt, dass es für ihn Teil des wahren jüdischen Glaubens ist, für das Recht der uigurischen Gläubigen zu kämpfen. „Als gottesfürchtiger Mensch“, so erklärt er, „bin ich überzeugt, dass wir für die Freiheit kämpfen müssen, Gott anbeten zu dürfen.“
Roth ist jung. Sehr jung. Der Doktorand an der Mount Sinai School of Medicine in NewYork (heute: Icahn School of Medicine at Mount Sinai) studiert auch am theologischen Rabbi Isaac Elchanan-Seminar, das sich ebenfalls im „Big Apple“ befindet. Um Menschen eines anderen Glaubens im Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu helfen, hat er Ende letzten Jahres eine Gruppe ins Leben gerufen, die sich „Uyghur Rally“ nennt.
Mitgründerin der Gruppe und Partnerin bei diesem Abenteuer ist Corby Johnson, die ursprünglich aus Seattle in Oregon stammt. Sie kennt sich ziemlich gut aus, denn sie hat die letzten vier Jahre in Zentralasien verbracht. Sie hat fließend Russisch gelernt und in Kirgisistan bei großen Sportveranstaltungen, an einer Universität und später für ein Reisebüro als Dolmetscherin für Russisch und Englisch gearbeitet. Aktuell macht sie ihren Master of Arts im Rahmen des Graduate Program in International Affairs an der New Yorker Universität The New School.
Die Geschichte von zwei US-Behörden und weniger Heldenmut
„Warum Menschen wie Yosef und ich uns für die Rechte der Uiguren einsetzen, obwohl wir selbst keine Uiguren sind?“, nimmt Johnson die Frage von Bitter Winter auf. „Das liegt daran, dass das schreckliche Schicksal der Uiguren ein unglaublich wichtiges Thema ist, das auch die Aufmerksamkeit der Medien erregt hat – aber in dessen Hinsicht nur wenig unternommen wurde. Was in Xinjiang passiert, ist so dermaßen ungeheuerlich, dass niemand diese Ungerechtigkeit ignorieren darf. Vielleicht denken manche, dass China so weit entfernt ist, dass wir uns als Amerikaner nicht darum kümmern müssen, was dort passiert, aber das stimmt nicht. US-amerikanische Firmen sind Partnerschaften mit China eingegangen und haben in diese Technologien investiert, das heißt, was in den Internierungslagern in China passiert, ist eng mit uns hier verbunden. Das heißt auch, dass wir, wenn wir die Lager in China beenden wollen, hier vor unserer Haustür damit beginnen können.“
„Uyghur Rally“ hat am 05. Februar seine erste Veranstaltung vor der US-Botschaft bei der UN in New York organisiert. „Es war so frustrierend für uns, dieses Thema in den Medien zu sehen und dann festzustellen, dass nichts dagegen unternommen wird“, erklärt Johnson. „Das jetzt wieder Millionen von Menschen in Internierungslagern sitzen, ist keine kleine Sache. Und es ist so frustrierend, wenn keiner bereit ist, etwas dagegen zu unternehmen. Deswegen haben wir entschieden, selbst etwas zu tun.“
Am 03. Mai veranstaltete die „Uyghur Rally“ ein zweites öffentliches Event in Washington D.C. Dieses war speziell darauf ausgerichtet, politische Vertreter der USA dazu aufzurufen, mit gezielten Sanktionen gegen die Unterdrückung der Uiguren anzukämpfen. Hier waren sie auf der gleichen Linie mit dem US-Kongress-Exekutivausschuss zu China (CECC). Leider wird der Heldenmut des CECC von dem US-Finanzministerium blockiert.
Warum das US-Finanzministerium mit der Sache befasst ist? Grund dafür ist eine Durchführungsverordnung des US-Präsidenten vom 20. Dezember 2017. In dieser wird die Befugnis, gezielte Sanktionen seitens der USA zu verhängen, an das US-Finanzministerium delegiert. Und warum blockiert das US-Finanzministerium gezielte Sanktionen der USA, die der CECC entwickelt und vorgeschlagen hat? Besonders in Hinblick auf die kommunistischen Behörden in Xinjiang? Weil die Idee der gezielten Sanktionen von Handelsgesprächen übertönt wurde. Folge der Spur des Geldes. Wie immer. Deswegen brauchen wir Menschen wie Yosef Roth, Corby Johnson und ihre Verbündeten und Unterstützer. Damit sie durch ihre „Uyghur Rally“ die Stimme für die Unterdrückten erheben. Dafür muss man kein Uigure sein.