Es erinnert an die Kulturrevolution: China setzt Bürgerspitzel ein, eine Bürgerwehr zur „Aufrechterhaltung der Öffentlichen Ordnung“ und zur Unterdrückung der Religion.
Fast überall in China findet man heute große Gruppen parteitreuer Bürger, die als Informanten und Gesetzeshüter an der Basis dienen. Sie sind leicht an den roten Armbinden zu erkennen, die sie deutlich erkennbar tragen. Die patrouillierenden und überwachenden Massen und Kader, die sogenannten „Roten Armbinden“, sind zu einem Werkzeug geworden, mit dem die KPCh die Gesellschaft überwacht – insbesondere Dissidenten und religiös Gläubige.
Der Einsatz dieser diensteifrigen Bürger zur Durchsetzung einer Moral- und Disziplinarordnung gegenüber ihren Mitbürgern erinnert an frühere Gesellschaftsbewegungen in China, wie die „Fengqiao-Erfahrung“ oder den Boxeraufstand.
Vor kurzem haben die chinesischen Behörden die Fengqiao-Erfahrung wieder aufleben lassen, eine Methode aus der Mao-Zeit, bei der Massen von Bürgern eingesetzt wurden, um diejenigen, die als „Klassenfeinde“ eingestuft wurden, unter dem Vorwand der Aufrechterhaltung der Öffentlichen Ordnung zu überwachen und durch Umerziehung, Überprüfung und Belehrung zu reformieren.
Ein weiterer historischer Präzedenzfall war der Boxeraufstand um die Jahrhundertwende. Die Boxer (wörtlich die „Fäuste von Harmonie und Gerechtigkeit“) waren eine chinesische Geheimgesellschaft, die einen Aufstand gegen Kolonialismus und Christentum führte. Der Politikexperte Wen Zhao erkennt einen roten Faden: „Eine Gemeinsamkeit der Boxer und der Fengqiao-Erfahrung ist, dass es sich in beiden Fällen um eine Form der Gewalttätigkeit von durch die Machthabenden gesteuerten Massen handelt, die Gräueltaten im Namen von Ruhm und Wahrheit begehen.“
Wer aber sind die Zielobjekte der jüngsten Massenbewegung gegen die „Feinde“ der KPCh? Bitter Winter hatte Zugang zur Kopie eines Plans einer Gemeindebehörde, in dem mehrere Zielgruppen aufgelistet wurden, wie zum Beispiel Familien, die einen Umzug planten oder bereits durchgeführt hatten; religiöse Menschen; Gruppen mit Bezug zu Xinjiang oder Tibet sowie Petitionssteller. Im Dokument wird zur konstanten Überwachung dieser Gruppen sowie zur „verstärkten Überprüfung von Schlüsselorten und -personen“ aufgerufen.
Ein Mitglied der Roten Armbinden aus einer Ortsgemeinde erzählte unserem Reporter, dass er dazu angehalten worden war, nicht nur normales kriminelles Verhalten zu melden. Als Mitglied der Roten Armbinden sollte er die Anwohner eingehend über den religiösen Glauben von Familienmitgliedern befragen, sowie über deren Besucher und die Dauer ihrer Besuche. Er sollte alles Mögliche ausspionieren, egal wie bedeutend es erscheinen mochte, um so viel wie möglich herauszufinden. Von besonderem Interesse für die Überwachung sind Personen, die sich nur kurz an festen Wohnorten aufhalten, sowie religiöse Versammlungsstätten.
Der Einsatz von Bürgern als Gesetzeshüter kann überall beobachtet werden, zum Beispiel auch an Flughäfen. Im Laufe des vergangenen Jahres wurde am Flughafen der Wirtschaftszone der Stadt Jieyang in der Provinz Guangdong ein Team von über 3000 „Roten Armbinden“ angestellt.
Und es gibt sie auch in allen Gemeinden sämtlicher Provinzen. Im Dezember 2017 begannen über 530 Meituan-Lieferanten (Meituan ist eine lokale Online-Plattform, auf der man wie bei Uber Eats Essen bestellen kann) im Stadtbezirk Wenjiang von Chengdu (der Hauptstadt der südwestlichen Provinz Sichuan) damit, rote Armbinden zu tragen. Sie installierten auch die „Wenjiang Police Network Red“-App auf ihren Mobiltelefonen, mit der sie direkt mit dem staatlichen Überwachungsapparat verbunden sind. Wenn sie Essen ausliefern, arbeiten sie gleichzeitig als Geheimdienstagenten und Spitzel für die Regierung. Sobald sie irgendwelche „feindlichen Zeichen“ entdecken, machen sie Fotos und laden sie auf ihrer App hoch, um die Polizei zu benachrichtigen.
Die Regierung von Wenjiang fördert die Entwicklung der Roten Armbinden in verschiedenen Bereichen. Die Behörden haben Gemeindepolizisten und Rasterverwalter beauftragt, Sicherheits- und Putzpersonal in Einkaufszentren, Parkhäusern und anderen öffentlichen Plätzen zu rekrutieren und aus diesen „Sicherheitsaktivisten“ ein riesiges Präventions- und Führungssystem zu bilden.
Vor allem Kirchen und religiöse Versammlungsstätten haben die harte Hand der Roten Armbinden zu spüren bekommen. So kamen zum Beispiel im Mai Beamte vom Büro für Religiöse Angelegenheiten des Kreises Huaiyang (Zentralprovinz Henan) zur Inspektion zu einer staatlich genehmigten Drei Selbst-Kirche. Die Beamten beorderten mehrere Angestellte mit roten Armbinden, die Kirche zu bewachen. Sie wurden angewiesen darauf zu achten, dass der Inhalt der Predigt den staatlichen Vorschriften entsprach. Außerdem sollten sie darauf achten, dass die Kleidervorschriften für Gläubige eingehalten würden, da es verboten ist, besondere Kleidung zu religiösen Anlässen zu tragen, und dass das Verbot für Auftritte von Kirchenmusikgruppen eingehalten wird. Des Weiteren wurden die Roten Armbinden angewiesen, die Kirchenaktivitäten zu fotografieren und die Fotos in Echtzeit hochzuladen. Gläubige berichten, dass Angehörige der Roten Armbinden mittlerweile häufig zu ihrer Drei Selbst-Kirche kommen und diese überwachen und Inspektionen durchführen.
Eine Angehörige einer Drei Selbst-Kirche in Xinjiang berichtet von einer ähnlichen Situation: Sie erzählt, dass in ihrer Kirche hochauflösende Überwachungskameras angebracht wurden und dass regelmäßig Menschen mit roten Armbinden zu sehen sind, die Überwachungen durchführen.
Die Roten Armbinden arbeiten auch als Polizeispitzel. Im September stürmten Polizisten des Büros für Öffentliche Sicherheit der Stadt Changzhou (Provinz Jiangsu) das Zuhause einer Angehörigen der Kirche des Allmächtigen Gottes. Ein Beamter machte freimütig Fotos von der Gläubigen und erklärte ihr, dass sie bereits seit langer Zeit überwacht würde. Später erinnerte sich die Christin daran, dass sie einen Mann mit einer roten Armbinde über lange Zeiträume hinweg immer wieder vor ihrem Haus hatte herumlungern gesehen, bevor sie festgenommen worden war.
Ein weiterer Fall von religiöser Schikane durch die Roten Armbinden fand weit entfernt von einem Kirchengebäude statt. Am 28. April machte die Panshi Church Private School in der Stadt Zhengzhou (Provinz Henan) einen Frühlingsausflug. Die Lehrer der Schule gingen mit den Kindern in einen Park und sangen Lieder zu Ehren Gottes. Sie wurden überraschend von Roten Armbinden des Wohnbezirkbüros entdeckt, die verlangten, die Verantwortlichen zu sprechen und diese dann anwiesen, umgehend zu verschwinden. Die Roten Armbinden drohten, die Polizei zu rufen, wenn diese der Anweisung nicht Folge leisten würden.
Ein Hauskirchen-Christ erzählte unseren Reportern hilflos: „Jedes Mal, wenn wir uns treffen, müssen wir versuchen, die Überwachung durch die Roten Armbinden zu umgehen. Wir wagen es nicht, laut Hymnen zu singen oder uns zu unterhalten, weil die Roten Armbinden überall sind. Es heißt, die Roten Armbinden seien dazu da, die Öffentliche Ordnung aufrecht zu halten, aber jeder weiß, dass es der Regierung bei der ‚Aufrechterhaltung der Stabilität‘ nicht nur um Kriminelle geht. Tatsächlich geht es hauptsächlich darum, religiöse Menschen, Dissidenten oder ‚heikle‘ Personen zu überwachen, die ihre Rechte verteidigen.“
Beobachter weisen darauf hin, dass angesichts der abflauenden chinesischen Wirtschaft die herkömmlichen Methoden zur Aufrechterhaltung der Stabilität teurer werden, und dass dies der Grund dafür sei, dass ein erneutes Interesse an der Einbindung der Bevölkerung wie zu Maos Zeiten erwacht ist.
Dass diese Methoden so kostengünstig sind, entspricht der in den chinesischen Mainstream-Medien wiedergegebenen Parteilinie in Hinblick auf die Roten Armbinden. Zur Propaganda gehören Parolen, wie: „Unterstützt Anliegen und keine Menschen, ersetzt Sozialhilfe durch Anreize“ und „Findet schnelle Wege, um das unzureichende Polizeiaufgebot effektiv zu verbessern“. Fengqiao und die Roten Armbinden scheinen eine hervorragende Methode darzustellen, um einen billigen Polizeistaat zu schaffen.
Bericht von Lin Yijiang