Die Angst vor Massenprotesten in China führt zu vollständiger Überwachung, ideologischer Kontrolle und Unterdrückung von Dissidenten und Menschenrechtsgruppen.
Bitter Winter hat im Mai 2018 ein 18 Seiten langes internes Dokument erhalten, das von den Behörden einer Stadt in Liaoning verfasst wurde. Dort werden detailliert die Methoden beschrieben, mit denen die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) „soziale Stabilität aufrechtzuerhalten” versucht. Das Dokument mit dem Titel Vorschläge zur Umsetzung von Aufgaben zur Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität 2018 für die führende Gruppe zur Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität, fordert die schnellere Entwicklung des „Sharp Eyes“-Projekts, die Förderung der „Fengqiao Experience” sowie die Fertigstellung eines Digitalisierungssystems.
Einige dieser Programme hat Bitter Winter bereits einzeln vorgestellt, wie z. B. den Einsatz der Fengqiao Experience, um Bürger als Beobachter und Berichterstatter über religiöse Personen einzusetzen; das Sharp Eyes-Projekt, das überall auf dem Land Überwachungskameras installiert, sowie die Nutzung des Sozialkreditsystems zur Einschränkung der Aktivitäten öffentlicher Intellektueller und Dissidenten. Dieses neue Dokument gibt Aufschluss darüber, wie sich die verschiedenen Programme zur Stabilitätskontrolle ergänzen.
Das Dokument erklärt, dass die KPCh so schnell wie möglich eine „sichere und zuverlässige abteilungsübergreifende Big-Data Plattform” einrichten möchte, „die die Modernisierung der Aufgaben zur Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität durch Aufklärung und Informatisierung voranbringen soll.”
Insbesondere im letzten Jahr hat im Namen der Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität ein Überwachungssystem à la Orwell Gestalt angenommen.
Das Dokument führt viele – und weiter zunehmende – potenzielle Ursachen für soziale Instabilität auf, einschließlich des Jahrestages des Protests am Platz des Himmlischen Friedens von 1989; Armut und ihre Begrenzungsprobleme; der Mangel an Arbeitsplätzen für Hochschulabsolventen; unzureichende Geldmittel für pensionierte Militärangehörige sowie die Schwankungen an den Aktien- und Immobilienmärkten. Die Regierung glaubt, dass jede Ursache allein, oder eine Kombination aus allen, zu Massenprotesten führen könnte.
Laut diesem Dokument arbeiten die Behörden an der Bewältigung dieser sozialen Probleme, um „soziale Konflikte bereits an ihrer Wurzel zu verhindern und zu entschärfen” und so die Prävention von Massenaufständen zu gewährleisten. Man versucht also nicht, diese sozialen Probleme zu lösen, sondern einfach nur mit ihnen umzugehen, um weiterhin an der Macht zu bleiben.
In Bezug auf die Problembehandlung mit pensionierten Militärangehörigen, heißt es beispielsweise in dem Dokument, die Beamten „müssten alles in ihrer Macht stehende tun, um den wichtigen Aufgaben für Massenstabilität für pensionierte Militärangehörige gerecht zu werden… die Ausbildungsberatung verbessern und sie [die Pensionäre] um die Partei und die Regierung konzentrieren.” Gegen „prominente Störenfriede”, die nicht „überzeugt” werden können, müsse jedoch „entschieden vorgegangen werden.” Zur tatsächlichen Lösung der Probleme in Bezug auf pensionierte Militärangehörige, bietet das Dokument keine Handlungsstrategien.
Einige Kommentatoren glauben, dass der zunehmende Druck und die Konflikte in der Basisgesellschaft den Unmut der Öffentlichkeit anzuheizen beginnen. Die, derzeit in Venezuela vor sich gehenden, Massenbewegungen, die einen Regimewechsel fordern, machen die KPCh extrem nervös. Daher ist die Lösung von Problemen in der Basisgesellschaft zu einer Priorität für die Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität geworden.
Laut der KPCh besteht der erste Schritt der Kontrolle von Unmut und Klagen der Basisgesellschaft darin, die Ideologie zu kontrollieren, was für die Partei schon immer ein zentrales Anliegen gewesen ist. Die Behörden lassen nur Lehrmeinungen zu, die das Fortbestehen des gegenwärtigen Regimes schützen.
Das Dokument verlangt ferner: „Klare Standpunkte, Abwehr und Widerstand gegenüber der Infiltration von westlicher Ideologie; Abwehr und Widerstand gegenüber irreführender ideologischer Trends und Sichtweisen, die sich gegen die Parteiführung richten oder den Sozialismus mit chinesischen Merkmalen angreifen, und die Bewahrung integrierter, gesamtgesellschaftlicher Ideologien sowie die Stabilität der öffentlichen Stimmung.”
Mit der ideologischen Kontrolle geht die Kontrolle des Internets durch die KPCh eng einher. In dem Dokument heißt es explizit, dass Beamte „die sensiblen und schädlichen Online-Informationen gegen die Parteiführung, die grundlegenden Richtungen, die die Partei eingeschlagen hat und gegen den sozialistischen Weg mit chinesischen Merkmalen entfernen” müssen. Sie müssen zudem auch „die Verwaltung von Online-Gruppen wie QQ und WeChat verbessern und Aktivitäten, die die Staatssicherheit und die soziale Stabilität bedrohen beenden.”
Das Dokument fordert auch, gezielt gegen wichtige Online-Personen und kritische Gruppen vorzugehen. Dabei weist es auf die Notwendigkeit hin, tatsächliche und online-Massenaktionen, wie z. B. zu Versammlungen in Provinzhauptstädte oder nach Peking zu reisen, rechtzeitig entgegenzuwirken, und unter all den Aufgaben zur Wahrung der sozialen Stabilität solche Aufgaben stets hoch einzustufen.
Berichten zufolge wurden seit Ende 2018 sehr viele Internetnutzer auf dem chinesischen Festland, die Virtual Private Networks (VPNs) benutzt hatten, um die sog. Great Firewall zu umgehen, entsprechend vernommen und inhaftiert und ihre Twitter-Meldungen gelöscht. Das Dokument betont zudem auch, dass Beamte „Websites ausländischer Feinde besser blockieren und die Infiltration durch schädliche ausländische Information, die in unser Land eindringt, wirksam unterbinden müssen.“
Menschenrechtsanwälte, Dissidenten und „böse” online-Big Vs” (in China die Bezeichnung für einflussreiche Meinungsführer, deren Identitäten zertifiziert sind und die auf der chinesischen Sozialen Plattform Weibo eine große Anhängerschaft haben) sind alles Personen, die der Kontrolle und Überwachung unterliegen. Das Dokument fordert weiterhin, dass Beamte „strikte Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass Menschenrechtsaktivisten, Dissidenten und Big Vs an Aktionen teilnehmen, die die politische Sicherheit und die soziale Stabilität stören; dass sie den anti-chinesischen westlichen Kräften konspirieren und das Erstarken oder Entstehen von Anführern aus den Reihen der Dissidenten absolut unterbinden und ebenso absolut die Bildung einer gegnerischen politischen Fraktion verbieten.”
In Bezug auf Menschenrechtsorganisationen und andere Arten illegaler Gruppierungen und deren Aktivitäten heißt es in dem Dokument, dass Beamte „alle, die überzeugt werden können, unverzüglich davon überzeugen müssen, eine Gruppe aufzulösen und gegen alle anderen, die auf dieses wohlgemeinte Abraten nicht reagieren und auf die Fortsetzung ihrer Aktivitäten bestehen, mit aller Härte durchgreifen müssen.”
Zur Verhinderung der „Farbrevolution” führt die KPCh als primäre Ziele Falun Gong, die The Church of Almighty God (Kirche des allmächtigen Gottes) und andere religiöse Gruppen auf, die in Verdacht stehen, sich mit ausländischen Mächten zu verbrüdern.
Insgesamt unterstreicht der Drang nach Massenüberwachung klar die Herausforderungen, vor denen Befürworter von Religionsfreiheit und Menschenrechte in China stehen. Er unterstreicht aber auch die derzeitige Angst des Regimes, einer eigenen, hausgemachten Farbrevolution zum Opfer zu fallen.
Bericht von Wang Anyang