Die Einstufung als xie jiao, die normalerweise nur für verbotene “heterodoxe Lehren“ gilt, wird nun immer häufiger, auch für “normale“ Hauskirchen, angewandt.
Sie akzeptieren keine staatliche Kontrolle, haben Verbindungen ins Ausland, haben zahlreiche Mitglieder, verbreiten aktiv das Evangelium, lesen verbotene spirituelle Bücher, usw. All das kennzeichnet die größten Hauskirchen im heutigen China. Doch das sind auch alles typische Merkmale der sogenannten xie jiao-Gruppen, welche die Regierung gewaltsam unterdrückt. Bei der Übersetzung chinesischer Veröffentlichungen wird xie jiao oft irreführend mit “üble Sekten“ übersetzt, doch eine bessere Übersetzung ist “heterodoxe Lehren“. Welche Lehren „heterodox“ und verboten sind, wird theoretisch von der Regierung bestimmt. Diese Praxis ist sehr alt und lässt sich bis in die Ming-Zeit zurück verfolgen. Eine Religion gilt als xie jiao, wenn die KPCh sie auf die xie jiao-Liste gesetzt hat.
In Xi Jinpings China führt die allgemeine Feindseligkeit der Religion gegenüber jedoch zu einer Behördenpraxis, die über die Gesetze und Vorschriften hinausgeht. Die Einstufung als xie jiao wird immer häufiger gegen Gruppen verwendet, die nicht auf der „xie jiao-Liste“ stehen.
Ein niederrangiger Regierungsbeamter in der Provinz Jilin im Nordosten Chinas hat vergangenen Juli folgende Nachricht in der WeChat-Gruppe der Dorfbewohner in seinem Zuständigkeitsbereich gepostet: “Die Zentralregierung unternimmt nun große Anstrengungen, um diejenigen festzunehmen, die an Gott glauben. Sie nimmt alle Kreuze ab, die in den Häusern hängen. Wenn [eine Religion] keine Genehmigung besitzt, wird sie als xie jiao eingestuft. Ihr dürft keine Gottesdienste mehr besuchen.“
“Wenn sie keine Genehmigung besitzt, dann gilt sie als xie jiao?“ fragten sich Christen im Dorf gegenseitig. “Bedeutet das, dass jede Hauskirche eine xie jiao ist? Was genau sind die Kriterien, nach denen die Regierung dies entscheidet?“
In der Vorstellung mancher chinesischer Beamter bedeutet versteckte Kritik an der Regierung und die Ablehnung staatlicher Führung, dass eine Person oder eine Gruppe gegen die Partei und gegen die Regierung eingestellt ist. Dies gehört zu den typischen Merkmalen einer xie jiao.
Zwei aufsehenerregende Schließungen inoffizieller Kirchen im Jahr 2018 sind Beispiele für den Trend, alle nicht genehmigten Kirchen als xie jiao zu bezeichnen: betroffen waren die Zion-Kirche in Peking und die Chengdu Early Rain Covenant-Kirche. Mitglieder der Zion-Kirche berichten, dass die Polizei während der offiziellen Ermittlungen vor der Schließung behauptet hatte, die Kirche sei “gegen Partei und Regierung eingestellt, politisch inkorrekt und xie jiao.“ Christen, die in der Chengdu Early Rain-Kirche festgenommen worden waren, berichten Ähnliches: Die Polizei hatte ihnen vorgeworfen “einer illegalen Kirche und einer xie jiao-Organisation“ anzugehören“.
Pastor Francis Liu von der in San Francisco ansässigen Chinese Christian Fellowship of Righteousness erzählt: “Uns kamen über mehrere Kanäle Berichte zu, dass die Polizei den Menschen, die sie verhaftet, erzählt, dass ihre Kirche illegal, ihr religiöser Glaube falsch und ihre Organisation eine xie jiao sei. Wenn die Organisation ihnen [der Regierung] nicht passt, oder sie denken, dass sie organisiert ist und eine Bedrohung ihrer Regeln darstellt, wird sie als xie jiao gebrandmarkt.“
Viele chinesische Hauskirchen haben das gleiche Schicksal erlitten wie die Zion- und die Early Rain Covenant-Kirche. Manche Kirchen wurden als xie jiao eingestuft, weil sie “keine Genehmigung erhalten hatten“, um die Gebäude, die sich in ihrem Besitz befanden, oder die sie gemietet hatten, zum Gottesdienst zu nutzen, oder weil “sie nicht auf die Regierung gehört hatten“, oder weil sie verdächtigt wurden, Verbindungen ins Ausland zu haben.
Seit Mai 2018 war eine Great Praise-Hauskirche im Kreis Tanghe in der chinesischen Zentralprovinz Henan wiederholt aufgefordert worden, ihre Gottesdienste zu beenden. Die Predigerin weigerte sich jedoch, dieser Aufforderung Folge zu leisten.
Im August drohten Regierungsbeamte damit, die Versammlungsstätte zu zerstören, wenn sie nicht vollständig leergeräumt werden würde. Sie behaupteten, die Versammlungsstätte sei illegal, die Kirche eine xie jiao, und alles, was vom Staat nicht erlaubt sei, müsse ausgerottet werden. Am 11. September entsandte die Regierung mehr als 100 Personen, um die Versammlungsstätte zu verwüsten.
Danach wurde die Predigerin festgenommen und zwei Mal verhört. Die Polizei fragte sie, ob sie Kontakte zu Ausländern habe und wer die obersten Kirchenleiter seien. Sie erklärten ihr, dass Kontakt mit Ausländern zu haben gleichbedeutend mit dem Betreiben von Spionage sei.
Manche Gläubige denken, dass der “Ungehorsam“ der Predigerin der Auslöser dafür war, dass ihr vorgeworfen wurde, sie betreibe eine xie jiao und sei ein Spion. “Der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist es gleichgültig, ob jemand wirklich gegen das Gesetz verstoßen hat, oder nicht. Wenn ihnen jemand nicht gehorcht, dann finden sie eine Möglichkeit, ihn zu bestrafen.“
Auch die Versammlungsstätte einer apostolischen Hauskirche im Stadtbezirk Tongliang der, im Süden Chinas gelegenen, Stadt Chongqing wurde ebenfalls für die Versammlungsstätte einer xie jiao gehalten. Im April 2018 stürmten mehr als 20 Polizeibeamte in die Versammlungsstätte, behaupteten, dort fände eine illegale Versammlung einer xie jiao statt, und drohten damit, in Zukunft kleinere Gesetzesverstöße mit 15 Tagen Haft und größere Vergehen mit Gefängnisstrafen zu sanktionieren.
“Sie sagen, es handle sich um rechtgläubiges Christentum, wenn das Gotteshaus über eine Genehmigung verfüge. Wenn es keine Genehmigung habe, sei es eine xie jiao. Was ist das für eine Logik?“ fragt ein Mitarbeiter der Kirche. “Mein Name wurde schon als der eines xie jiao-Mitglieds registriert. Dem Pastor wurden auch schon Restriktionen auferlegt: Er muss sich alle drei Tage bei einem Rasterverwalter melden und sich auch fotografieren lassen.“
Manche Beobachter haben bemerkt, dass die Einstufung der Hauskirchen als xie jiao 2014 nach dem McDonald’s-Mord begann, als eine Verkäuferin in einem McDonald’s-Restaurant in der Stadt Zhaoyuan (Provinz Shandong) ermordet worden war, und die chinesische Regierung fälschlicherweise die Kirche des Allmächtigen Gottes für diesen Mord verantwortlich machte. Danach verwendete sie diesen Vorfall zu Propagandazwecken im Rahmen ihrer anti-xie jiao-Kampagne.
Die Beobachter befürchteten, dass die Regierung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) diese Bezeichnung dazu verwenden würde, um jene Hauskirchen auszulöschen, die der Regierung nicht “genehm“ waren, oder die “rote Linien“ überschritten hatten, indem sie zu groß geworden waren, die Regierung kritisiert hatten oder Kontakte zu ausländischen Organisationen aufrechterhielten.
Der Berichterstatter Guo Baosheng hatte die Menschen bereits zuvor gewarnt, sie sollten sich dagegen wappnen, dass Hauskirchen als xie jiao gebrandmarkt würden. Er sagte: “[…] In Zukunft wird die Regierung die Hauskirchen, besonders die Hauskirchen auf dem Land, immer häufiger der Straftat beschuldigen, sie seien xie jiao. Von den 20 unterschiedlichen xie jiaos, die auf der Liste der Anti-xie-jiao-(oder Anti-Sekten-) Vereinigung Chinas stehen, gelten 15 als christlich. Nimmt man bestimmte Merkmale dieser Hauskirchen als Bewertungsgrundlage, so könnte man zahlreiche Hauskirchen problemlos als xie jiao einstufen. Es wäre auch sehr schwierig für Hauskirchen, sich deutlich von diesen 15 abzugrenzen. […] Solange sie nicht der Drei Selbst-Kirche beitreten, könnte die Regierung sie ebenfalls als xie jiao einstufen und nach Artikel 300 des chinesischen Strafgesetzbuches gegen sie vorgehen.“
Bericht von Yao Zhangjin