Der australische Wissenschaftler und führende Experte zu New Age in China, Paul Farrelly, erklärt Bitter Winter, wie New Age-Literatur und -Lehren vom Westen über Taiwan nach China gelangten. Solange es den Status Quo nicht in Frage stellt, scheint New Age in China eine überraschende Toleranz zu genießen.
Dr. Paul J. Farrelly promovierte im Dezember 2017 am Australian Centre on China in the World der Australian National University. In seiner Doktorarbeit befasst er sich mit der Kulturgeschichte von New Age in Taiwan, wobei sich sein Interesse auch auf neue religiöse Bewegungen dort und in China erstreckt. Er ist Leiter von Capital Academic Advisory und in seiner Freizeit pflegt er das von vielen als weltweit größtes Archiv visueller New Age-Kultur bezeichnete Altered_Statuses. Vor kurzem wurde er Mitherausgeber des China Story Yearbook 2018.
Bitter Winter sprach mit ihm über das wenig bekannte Thema “New Age in China“, das von Taiwan aus dorthin gelangt ist, sowie über die Einstellung der chinesischen Behörden zu New Age-Literatur und -Lehren.
Wie gelangte das als New Age bezeichnete Phänomen nach Taiwan?
Ende der 1960er wurde New Age allmählich durch gelegentlich veröffentlichte Übersetzungen in Taiwan bekannt gemacht. 1989 wurde es dann durch die Herausgabe der ‚New Age Reihe 新時代系列’ durch Fine Press 方智出版社 kodifiziert. Das erste Buch, das in groben Zügen in das New Age-Milieu passt (und tatsächlich später als Teil der New Age-Reihe neu gedruckt wurde), war das 1969 in Fortsetzung erschienene „Der Prophet“ von Khalil Gibran in der Übersetzung von C.C. Wang 王季慶. In den 1980ern veröffentlichte Wang drei Übersetzungen der Seth Offenbarungen von Jane Roberts. Andere Autoren, die vor 1989 ins Chinesische übersetzt und in Taiwan veröffentlicht wurden, waren unter anderem Fritjof Capra, Emmanuel Swedenborg und George Gurdjieff. In der Zeit vor dem Internet verschmelzen zusammen mit Buchläden, wie dem noch offenen Making Life Buddhist 人生 化 Lesegruppen rund um populäre Publikationen. Das erste Buch einer einheimischen Autorin, das sich speziell mit ‚New Age‘ oder der ‚New Age-Bewegung‘ auseinandersetzte, war Ancient Future 古老的未來 (1990), das Terry Hu 胡因夢 nach ihrem Rückzug von der Schauspielerei geschrieben hat (ihr Kapitel zu New Age-Musik finden Sie hier).
Innerhalb dieser größeren historischen Prozesse erlebten C. C. Wang und Terry Hu zahlreiche Konfrontationen, Rückschläge und Durchbrüche, die zeigen, dass der New Age-Einführungsprozess in Taiwan sehr viel komplexer war, besonders hinsichtlich der Rolle der USA, der Übersetzungspraxis und Taiwans Rolle im größeren Kontext geo-politischer Veränderungen. Das erkläre ich detaillierter in meiner Doktorarbeit und in manchen der Artikel auf meiner Website.
Wie erfolgreich war New Age in Taiwan?
Ich denke, extrem erfolgreich. In jedem Buchladen, den ich in den letzten zehn Jahren besucht habe, gab es eine ansehnliche Sammlung von New Age-Literatur im Angebot (heute findet sich diese oft in der Kategorie ‘Mind, Body, Spirit shenxinling 身心靈’, besonders in China). Fast 30 Jahre nach ihren Anfängen werden in der New Age-Reihe von Fine Press neue Übersetzungen (und manchmal auch Originaltexte chinesisch-sprachiger Autoren) veröffentlicht. Mehrere einheimische Autoren haben ihre New Age-Vorstellungen und damit verbundenen Ideen veröffentlicht. Und es gibt eine schier endlose Reihe von Workshops, für diejenigen, die genug verdienen, um sich so etwas leisten zu können.
Es gibt auch taiwanesische Autoren wie Lei Chiu-nan 雷久南(die, soweit ich weiß, die erste Autorin war, die speziell über shenxingling geschrieben hat), die Anhänger in den USA und Südostasien haben. Hsu Tien-sheng 許添盛, der die Lehren von Jane Roberts Seth in seine ärztliche Ausbildung integriert, war sogar in Australien, wo ich seinen Chinesisch-Unterricht im Tzu Chi-Zentrum 慈濟功德in Sydney besucht habe. Von Bedeutung ist auch, dass zahlreiche taiwanesische Lehrer, die ein Publikum in China gefunden haben und für die Arbeit dort aufgrund der sprachlichen und kulturellen Verbindungen und ihrer Lehrerfahrung im eigenen Land prädestiniert sind.
Ist New Age Ihrer Meinung nach auch heute noch erfolgreich in Taiwan?
Auf jeden Fall. Auch wenn sie heute, wie oben schon erwähnt, eher als shenxinling bezeichnet werden, sind New Age-Lehren fester Bestandteil Taiwans und ich bin immer wieder überrascht, wenn ich zufällig auf Leute stoße, die bestimmte Texte oder Lehrer kennen. Taiwan ist ein globaler Hotspot, was neue Religionen (und religiöse Aktivitäten allgemein) anbelangt und New Age ist in diese Umgebung hineingewachsen und hat sie vervollständigt, wobei es eine Form angenommen hat, die etwas besser mit der einheimischen Kultur harmoniert; jede breiter angelegte Studie zur Spiritualität in der derzeitigen Gesellschaft dort muss auch New Age behandeln.
Bei der CESNUR 2018-Konferenz haben Sie einen Vortrag über Tiffany Chang gehalten. Wer genau ist sie?
Tiffany Chang 張德芬wurde in Taiwan geboren und lebt nun als Lehrerin, Autorin und Übersetzerin in Peking. Derzeit ist sie die bekannteste Vertreterin der shenxinling-Lehren in China. Bevor Chang sich mit spirituellen Themen zu beschäftigen begann, war sie in Taiwan als Fernsehjournalistin bekannt. Sie hat über zahlreiche Themen, unter anderem über ihr neues Leben in Peking geschrieben. 2008 übersetzte sie Eckhart Tolles Eine neue Erde, 2007 veröffentlichte sie ihr Bestseller-Debut Encountering Your Unknown Self 遇見未知的自己. Dieses Buch begeisterte Leser in Taiwan und China und kurbelte ihre Karriere als spirituelle Ikone an. 2018 betreibt sie einen beliebten WeChat-Account und veröffentlicht weiterhin regelmäßig – als ich 2017 und 2018 durch China reiste, entdeckte ich ihre Bücher überall im Land, prominent in Buchläden platziert.
Sie haben ausführlich über eine Bewegung, die als Huan-ting zen (HTZ) bekannt ist, geschrieben. Können Sie deren Ursprünge, Geschichte und Lehren kurz zusammenfassen?
Das erste Mal erfuhr ich von HTZ als ich 2010 in Taipei lebte. Ein Pipa琵琶-Lehrer erzählte mir von dieser Gruppe, und erwähnte, dass die Bewegung traditionelle chinesische Philosophie mit moderner Psychologie verbände. Das weckte mein Interesse. Ich besuchte die Gruppe und führte ein Interview mit dem Gründer Chang Ching-hsiang 張慶祥.
Diese Gruppe war 2004 gesetzlich registriert worden und kann als eine Art guoxue-Gruppe 國學(Gruppe zum Studium der chinesischen Kultur) betrachtet werden. Sie besitzt eine Zentrale in den Bergen südlich von Taipei und ein kleineres Zentrum in Xindian in New Taipei City. Im Wesentlichen vereint die Gruppe Elemente der ‚traditionellen chinesischen Kultur‘ (Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus) mit einer Version der modernen Psychologie und verschiedenen New Age-Einflüssen. Chan 禪(Zen, der dritte Buchstabe im Gruppennamen) wird als einheimische chinesische Psychologie dargestellt, welche aufgrund jahrtausendlanger Praxis und Entwicklung als weiterentwickelt gilt als die konventionelle moderne Psychologie. Die Gruppe geht davon aus, dass wir alle von einem Energiezentrum beseelt sind, dass als das huangting 黃庭bezeichnet wird. Dafür stehen die ersten beiden Buchstaben im Namen der Gruppe. Die Art und Weise wie wir auf Situationen reagieren – unsere emotionale Reaktion – wird vom huangting des jeweiligen Individuums bestimmt. Die Gruppe glaubt, dass wir, indem wir kennenlernen und verstehen, wie sich etwas gestaltet, dem Leben mit ruhigerem Geist begegnen.
Leser, die mehr über HTZ erfahren wollen, können gerne meinen Artikel über ihr ‘action zen’-Trainingsprogamm oder mein Kapitel über die Verwendung von Medientechnik in ihren Workshops und Übungen lesen.
Wann und wie sind HTZ und die Arbeiten von Tiffany Chang von Taiwan nach China gelangt?
Tiffany Chang lebt seit Mitte der 1990er in Peking, wo sie eine Zeit lang für IBM gearbeitet hat. HTZ wird seit 2009 in China gelehrt. Reisen zwischen Taiwan und China sind schon seit 1987 einfacher geworden, besonders von Taiwan aus, aber wirklich angestiegen ist die Zahl der Grenzübertritte nachdem die Kuomintang-Regierung unter Ma Ying-jeou (2008-2016) Direktflüge von China aus eingeführt und größeren chinesischen Reisegruppen und später auch Individualtouristen die Reise nach Taiwan erlaubt hat. Es war also nicht nur so, dass Chang und ihre Assistenten nach China reisen und dort Retreats organisieren und HTZ in zahlreichen Foren bekanntmachen konnten, sondern auch so, dass Schüler aus China relativ einfach nach Taiwan gelangen konnten. Als ich 2012 in Taiwan Feldstudien durchführte, traf ich zahlreiche Retreat-Teilnehmer aus China. Es war sehr interessant festzustellen, dass für manche Chinesen Taiwan ein idealisierter Ort für spirituelles Lernen und Selbsterfahrung ist.
In China gibt es ja bekanntlich Kampagnen und sogar Gesetze gegen ”die Verbreitung abergläubischer Lehren”. Wie konnten die New Age-Ideen und HTZ dem entgehen und wie sieht die aktuelle Haltung der chinesischen Behörden in Hinblick auf diese Ideen aus?
HTZ, Tiffany Chang und andere staatskluge Lehrer können diese Regeln im Allgemeinen umgehen. Und da New Age nicht eindeutig als Religion oder religiös eingestuft werden kann, kann es sich auch leicht Nachforschungen entziehen – einfach indem es sich nicht als Religion, sondern als kulturelle Tradition präsentiert.
Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass die Behörden in China HTZ gegenüber toleranter waren, als zum Beispiel den Lehren von Meister Ching Hai gegenüber, die in der Liste der xie jiao aufgeführt sind, ganz zu Schweigen natürlich von Falun Gong?
HTZ ist eine sehr viel kleinere Gruppe als Falun Gong oder die Gruppe derjenigen, die von Ching Hai beeinflusst werden. Es scheint auch so, als habe der Gründer von HTZ, Chang, das sich immer verändernde politische Klima in China verfolgt und seine Arbeit so gestaltet, dass sie keinen Verdacht erregte, sondern eher das politische System akzeptierte. So hat er zum Beispiel an einer offiziellen Konferenz zu positiver Psychologie teilgenommen und gemeinsam mit den Behörden ein Förderprogramm für Angestellte in Kunming entwickelt.
Präsident Xi Jinping verwendet auch den Ausdruck xinshidai, ein Wort womit früher “New Age” übersetzt wurde. Ist das einfach nur Zufall?
Wenn Xi Jinping von xinshidai spircht, dann wird das als ‚Neue Ära“ und nicht als ‘New Age’ übersetzt. So gerne ich mir auch vorstellen würde, dass Xi die Offenbarungen von Seth oder die Gespräche mit Gott gelesen hat, oder politische Ratschläge von Tiffany Chang entgegennimmt: dass er diesen Ausdruck gewählt hat, ist wohl Zufall. Interessant hier sind die Parallelen zwischen der indivduum-zentrierten, kommerz-basierten spirituellen Transformation Taiwans im späten 20. Jahrhundert, die unter dem Namen xinshidai bekannt war und der beschleunigten han-zentrierten nationalen Kontrolle und der gleichzeitigen Neuordnung der globalen Normen und Institutionen, die Xis xinshidai inhärent sind.
Leser, die noch mehr über Dr. Farrellys Werk erfahren möchten, können auf seiner Website oder auf Twitter unter @paul_farrelly weiterlesen.