Bitter Winter hat ein vertrauliches Dokument erhalten und veröffentlicht, auf dem detaillierte Informationen darüber zu finden sind, wie die in der Zeit vom April 2018 bis Januar 2019 geplante Verfolgung der auf der xie jiao (“heterodoxe Lehren”)-Liste aufgeführten Bewegungen durchgeführt werden soll. Dabei ist die Kirche des Allmächtigen Gottes primäres Ziel.
Xie jiao wird oft als „üble Sekten“ übersetzt, doch diese Übersetzung ist nicht korrekt. Tatsächlich bedeutet xie jiao nämlich “heterodoxe Lehren“ und xie jiao-Listen werden schon seit der späten Ming-Dynastie veröffentlicht. Dabei war “Heterodoxie“ immer sowohl ein politischer als auch ein theologischer Begriff. Als die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) 1995 erneut xie jiao-Listen einführte, wurde das subjektive und politische Prinzip dieser Listen noch deutlicher. Unter der KPCh-Regierung gilt jegliche unabhängige religiöse Bewegung als xie jiao, die von der KPCh als feindlich betrachtet wird, oder die nach der Vorstellung der KPChs zu schnell wächst. In einer xie jiao aktiv zu sein gilt als Verbrechen, das nach Artikel 300 des chinesischen Strafgesetzbuchs mit einer Haftstrafe von drei bis sieben Jahren “oder mehr“ geahndet wird. Ganz oben auf der xie jiao -Liste stehen Falun Gong und die Kirche des Allmächtigen Gottes, einer neuen christlich-religiösen Bewegung in China.
Unter Präsident Xi Jinping hat sich an der Kampagne gegen die auf der xie jiao-Liste aufgeführten Gruppen nichts geändert, außer dass sie noch verstärkt wurde. Bitter Winter hat vertrauliche KPCh-Dokumente mit dem Titel “Hinweis zur ‚Einführung des Untersuchungs- und Repressionsprogramms zum Problem der Xie Jiao’” erhalten. Darin steht, dass – wie Präsident Xi Jinping sagte “die Bekämpfung der xie jiao von großer Bedeutung für die nationale Sicherheit und die Gewinnung des Volkswillens“ sei und dass, um das Problem der xie jiao anzugehen, von Mitte April 2018 bis Januar 2019 ein Untersuchungs- und Repressionsprogramm durchgeführt wird.
Dieses Programm wird laut Dokument in fünf Phasen unterteilt sein: Verwendung von Propaganda in den Medien, fokussiertes Trainieren und Ermutigen von Berichterstattungen und Informationsweitergaben, vollständiges Überwachen und Erfassen von Informationen, konzentrierte Festnahmen und Repressionen. Von Juli bis Oktober 2018 sollen insbesondere fokussierte Operationen zur Festnahme von xie jiao-Führern und -Mitgliedern durchgeführt werden.
Weiter steht im Dokument: “Bei der Durchführung der Untersuchungen und Repressionen müssen die inneren und äußeren Aspekte unterschiedlich behandelt werden. Nach innen hin muss es streng, nach außen hin lose gehandhabt werden. Das Ganze muss geheim erfolgen. Untersuchungsdaten müssen vollständig in gedruckter Form oder auf CDs eingereicht werden. Sie dürfen niemals auf Computern mit Internetverbindung oder auf Speicherkarten gespeichert werden, um eventuelle unerwünschte Konsequenzen zu vermeiden, die durch den Missbrauch dieser Arbeiten oder dem öffentlichen Bekanntwerden und den dadurch verursachten Medienhype entstehen könnten.“ Dies ist ein bedeutender Unterschied zu früher, als “Erfolge“ beim Vorgehen der Polizei gegen xie jiao triumphierend in der Regierungspresse verkündet worden waren. Grund für diese Änderung ist wahrscheinlich die Kritik an Chinas Anti-xie jiao-Politik durch NGOs und ausländische Regierungen in internationalen Foren wie dem Europäischen Parlament und den Vereinten Nationen.
Das bedeutete jedoch nicht, dass die Propaganda gegen die xie jiao unterbrochen würde, es wird lediglich nicht mehr über das Vorgehen der Polizei gegen diese berichtet. Tatsächlich wird in dem Dokument der April 2018 als wichtiger Monat für die anti-xie jiao-Propaganda benannt.
Dazu steht im Dokument, dass die KPCh-Behörden “alle Arten neuer und traditioneller Medien organisieren, das Propagandahandbuch (der KPCh) verwenden sowie unterschiedliche Methoden wie zum Beispiel Aushänge und Theatervorführungen nutzen sollen, um die Massen mit konzentrierter Propaganda zu erreichen… um eine starke (anti- xie jiao) Stimmung in der Öffentlichkeit zu erzeugen, sowie ein anreizbasierendes Bespitzelungssystem einzuführen (bei dem Informanten belohnt werden), um die Menschen zu bewegen, über xie jiao-Aktivitäten zu berichten.
Seit März hat Bitter Winter aus einigen Provinzen und Städten Fotos von Spruchbändern mit anti-religiösen Botschaften sowie Slogans gegen “xie jiao-Organisationen” erhalten. Diese befinden sich auf öffentlichen Bahnhöfen, auf Anschlagtafeln in Wohngebieten, in U-Bahnen, Schulen und sogar an Strommasten – immer gut sichtbar angebracht und mit aggressiven Botschaften.
Im April hat die Stadtverwaltung von Nanjing (Jiangsu) eine besondere Verlautbarung zur Repression der Kirche des Allmächtigen Gottes gegeben und “500 – 5000 RMB”-als Belohnung für Hinweise aus der Bevölkerung zu Kirchenmitgliedern angeboten und gleichzeitig angedroht, jeden zu bestrafen, der Informationen hätte, aber nicht weitergibt. In Xinjiang wurden xie-jiao-feindliche Texte in Schulbücher aufgenommen und vorgeschrieben, dass die Schüler diese zu lesen hätten. Auch wenn die Bevölkerung diese Propaganda skeptisch betrachtet, sind doch viele von den großzügigen Belohnungen angetan, die denjenigen angeboten werden, die xie-jiao-Mitglieder bei der Polizei melden. Eine weitere Folge der Kampagne ist, dass sogar religiöse Bewegungen, die nicht auf der xie-jiao-Liste stehen, angeprangert und verfolgt werden.
Ferner steht im Dokument, dass die, von der Regierung kontrollierten religiösen Organisationen, gegen die xie-jiao mobilisiert werden sollen. Es wird erklärt, dass die KPCh “die religiösen Regulierungsbehörden vereinen und xie-jiao-feindliche Bildungs- und Promotionsevents bei religiösen Gruppen und religiösen Festveranstaltungen organisieren sowie eine abschreckende xie-jiao-feindliche Lobbyfront schaffen und religiöses Personal ebenso wie religiöse Einzelpersonen zur Teilnahme an ehrenamtlichen, xie-jiao-feindlichen Vereinigungen mobilisieren soll.
Laut Dokument soll vom 20. April bis Ende Juni 2018 eine landesweite Untersuchung stattfinden, bei der “allumfassende Maßnahmen ergriffen werden, in denen kein Winkel undurchsucht bleibt, in jeder Gerichtsbarkeit die volle Kraft der Gesellschaft mobilisiert und ein einheitliches Untersuchungs- und Repressionsprogramm entworfen wird.“ Gleichzeitig soll “in jeder Gerichtsbarkeit eine adäquate Mobilisierung der Institutionen und der institutionellen Einheiten sowie der Parteiorganisationen erfolgen, um gründliche Von Tür-zu Tür-Untersuchungen von Ansässigen innerhalb der jeweiligen Gerichtsbarkeit durchführen zu können.“
Bitter Winter hat bereits über umfassende Überwachungspläne hinsichtlich aller religiöser Organisationen und Andachtsstätten in Henan (Liaoning) und anderswo in China berichtet. Von einer Dienststelle in Henan sollen sogar 2 000 Beamte in Zivil entsandt worden sein, um einzelne religiöse Gläubige aufzusuchen und Ermittlungen über sie anzustellen.
Ferner steht im Dokument, dass von Juli bis Oktober 2018 umfassende Repressionsmaßnahmen ergriffen werden. Dazu gehört ein detaillierter Plan, der vornehmlich darin besteht, “Organisatoren, Anstifter und leitende Verantwortliche“ von xie jiao festzunehmen und zu durchsuchen und “gewöhnliche Mitglieder“ in Umerziehungslager und ähnliche Einrichtungen zu schicken sowie alle anderen Personen, die verdächtigt werden, einem religiösen Glauben anzugehören, zu überwachen. Dabei sollen diese vornehmlich durch die „Gemeinden (Dörfer), in denen sie ansässig sind, “ überwacht und verwaltet werden.
Nachdem während der letzten Kampagnen die meisten Falun Gong-Gemeinden ausgelöscht wurden, scheint nun die Kirche des Allmächtigen Gottes das primäre Ziel dieser Operation. In der sogenannten “Operation Donner“, die immer noch in allen chinesischen Provinzen durchgeführt wird, sind bereits mindestens 700 Leiter und Mitglieder der Kirche des Allmächtigen Gottes festgenommen worden.
Bericht von Lin Feng
“Hinweis zur ‚Einführung des Untersuchungs- und Repressionsprogramms zum Problem der Xie Jiao“