Der Hongkonger Wissenschaftler Edward Irons spricht über die historischen Wurzeln des Verbots bestimmter Gruppen als Xie Jiao (heterodoxe Lehren) und erklärt, warum ein Eintrag auf der Xie Jiao-Liste gleichbedeutend damit ist, zu einem Hauptziel der Verfolgungen zu werden.
Massimo Introvigne
Der in Hongkong lebende Edward Irons ist ein bekannter Wissenschaftler, Berater und Autor auf dem Gebiet der chinesischen Kultur und Religion. Sein Spezialgebiet bilden Yiguandao und andere neue Religionen in China sowie die Wissenschaft der Menschenführung. Er hat im Jahr 2000 an der Graduate Theological Union promoviert und ist Leiter des Hongkonger Instituts für Kultur, Handel und Religion, das er 2003 gegründet hat.
Irons hat tiefgehende Studien über die Unterdrückung bestimmter religiöser Gruppen im nationalistischen und kommunistischen China durchgeführt, die als „Sekten“ oder „heterodoxe Lehren“ (Xie Jiao) verfolgt werden. Diese Bezeichnungen sind selbst für Wissenschaftler oft nicht eindeutig und wir haben Dr. Irons gebeten, sie für uns zu erläutern.
Wir wissen, dass im Chinesischen Kaiserreich „heterodoxe Gruppen“ unterdrückt wurden und dass der Ausdruck Xie Jiao aus der Ming-Zeit stammt. Hier wollen wir jedoch nicht so weit zurückgehen, sondern mit dem harten Vorgehen gegen bestimmte Religionen im nationalistischen China der 1930er-Jahre beginnen. Dies mag für manch einen überraschend sein, da es sich bei den Nationalisten ja nicht um Kommunisten handelte und sie offiziell keine Atheisten waren. Welche Gruppen wurden verfolgt und warum?
Die Ereignisse der 1930er-Jahre bilden den Hintergrund für die Entwicklungen in der Volksrepublik. Wir können sogar noch weiter zurückgehen, nämlich in die späte Qing-Zeit, um zu den Ursprüngen der anti-religiösen Gefühle zu gelangen. In der späten Qing-Zeit, ungefähr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gab es unter den gebildeten Chinesen verstärkt intellektuelle Strömungen, die sich gegen Aberglauben und Tradition richteten. Die Version der Moderne, die von vielen Intellektuellen propagiert wurde, bot keinen Raum für Praktiken der Volksreligion, wie automatisches Schreiben oder kultische Verehrung. Die Kuomintang (KMT), die 1927 an die Macht gelangte, bot stattdessen eine Ideologie der Rationalität. Dazu kam, dass viele Chinesen organisierte Religionen, wie den Buddhismus für rückständig hielten, für etwas, das die Entwicklung Chinas in ein modernes Land behindere. Die Tempel besaßen große Ländereien, was als ungerecht angesehen wurde, und Mönche galten als ungebildet und unaufrichtig in der Ausübung der Religion. Artikel 6 der Republikanischen Verfassung garantierte „Glaubensfreiheit“. Gleichzeitig erhielt die Regierung eine strikte Trennung von Kirche und Staat aufrecht.
Zwischen 1927 und 1931 rief die Regierung der Republik eine offizielle Kampagne gegen Aberglauben und institutionalisierte Religion ins Leben. Insbesondere gegen den Buddhismus führte die Regierung einen beständigen Kampf. Es kam zu sporadischen, aber weit verbreiteten Beschlagnahmungen von Eigentum von Buddhisten und lokalen Tempeln der Gottheiten. Diese Kampagne kann man am ehesten als Auswuchs der mächtigen nationalistischen Bewegung von 1919 betrachten. Diese Bewegung wünschte sich ein modernes China und hegte eine starke Abneigung gegen Tradition und Aberglaube. Die KMT wandelte diese gegen Aberglauben eingestellte Haltung in Politik um, wie es nach 1949 auch die Volksrepublik tat. Die Kampagne gegen den Aberglauben endete erst 1934, als der KMT-Führer Chiang Kai-shek (蔣介石,Jiang Jieshi, 1897-1975), sein eigenes spirituelles Programm ins Leben rief: Die New Life-Bewegung (新生活運動,xinshenghuo yundong).
Die nationalistische Regierung konzentrierte sich vor allem auf den institutionalisierten Buddhismus. Ironischerweise entstanden in den 1920ern und 1930ern zahlreiche neue organisierte Religionsgruppen. Manche davon waren buddhistisch, andere daoistisch und manche christlich. Ich denke nicht, dass irgendeine davon einflussreich genug gewesen wäre, um die nationalistische Regierung zu beunruhigen – mit einer Ausnahme: Yiguandao.
Dann gelangte die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) an die Macht und in den 1950er-Jahren kam es zu einem weiteren massiven Vorgehen gegen bestimmte religiöse Gruppen, insbesondere gegen Yiguandao, eine sehr erfolgreiche neue, nicht-christliche Religionsbewegung. Millionen von Mitgliedern wurden verhaftet. Warum Yiguandao? Können Sie uns erläutern, was geschehen war?
Yiguandao ist eine synkretistische chinesische Religion. Sie wurde in ihrer modernen Form erstmals in den 1930er-Jahren gegründet, ihre Wurzeln reichen jedoch tief in den chinesischen Volksglauben. Manchen Quellen zufolge zählte die Bewegung 1947 zwölf Millionen Mitglieder. Im Rahmen der Bewegung gegen heterodoxe Gruppen und Geheimgesellschaften (fandong huidaomen 反动会道门) in den Jahren 1951 bis 1953 wurde Yiguandao verboten und aktiv unterdrückt. Auch andere Gruppen wurden unterdrückt, aber es scheint, als sei Yiguandao die Hauptzielscheibe gewesen. Millionen von Anhängern wurden verhaftet. Yiguandao-Führer wurden ins Gefängnis geworfen und manchen Berichten zufolge ohne Umschweife ermordet. Innerhalb weniger Jahre war das religiöse Netzwerk Yiguandaos in China vernichtet und es blieb nur eine schwache kulturelle Erinnerung aus den 1930ern und 1940ern. In Taiwan ist die Bewegung immer noch aktiv. Dort gibt es mehrere Gruppen mit ungefähr 800 000 Anhängern. Auch in Hongkong, Korea und Japan sowie innerhalb Südostasiens und den meisten Ländern Europas und Nordamerikas gibt es Yiguandao-Tempel und Tempelnetzwerke.
Warum wurde Yiguandao so stark verfolgt? Es ist allgemein bekannt, dass sich die marxistische Ideologie gegen die Religion im Allgemeinen richtet. Dazu kam, dass die religiösen Führer oft persönlich mit der herrschenden Klasse verbunden waren. Im Fall von Yiguandao wuchs die Bewegung während des Krieges gegen Japan rasch an, besonders in jenen Gebieten Chinas, die sich unter japanischer Besetzung befanden. Dieses rasche Wachstum brachte die Leute dazu, darüber nachzudenken, ob die Gruppe in besonderer Beziehung zu der von den Japanern oktroyierten Marionettenregierung stünde. Direkt nach Japans Rückzug kam es zu Gerüchten über geheime Absprachen. Yiguandao wurde also nicht nur als große, gut organisierte Religionsgruppe, sondern auch als unpatriotisch betrachtet.
Die Situation änderte sich natürlich mit der Kulturrevolution, während der alle Religionen verfolgt wurden. Und dann änderte sie sich erneut…
In den frühen 1960er-Jahren gab es eine Phase der offenen Feindseligkeit gegenüber allen Formen von Religion. Diese Feindseligkeit ließ nach, als ab dem Jahr 1979 Wirtschaftsreformen durchgeführt wurden. Dennoch war Religion kein Thema, das außer Acht gelassen werden konnte. Religiöse Widerstände, wie die Falun Gong-Demonstrationen 1999 sowie der rapide Anstieg inoffiziellen Christentums auf dem Land stellten Herausforderungen für die Regierung dar. Seit den 1990ern begann der Staat damit, bestimmte religiöse Gruppen ins Visier zu nehmen. Diese Gruppen wurden herausgehoben, indem sie für illegal erklärt und von verschiedenen Büros für Sicherheit unterdrückt wurden. Dieser gezielte Ansatz unterschied sich von dem Vorgehen in den 1950er- und 1960er-Jahren, als die Regierung breitflächige Verbote gegen „Religion“ als Geisteshaltung und Tätigkeit erließ, die als schädlich oder falsch eingestuft wurde. Natürlich waren bereits bestimmte Gruppen in China verboten worden – angefangen mit den „Schreiern“ im Jahr 1983.
Wie kam es dazu, dass bestimmte Gruppen als Xie Jiao herausgegriffen wurden?
Nach den Falun Gong-Demonstrationen im Jahr 1999 richtete das Büro für Öffentliche Sicherheit ein neues Organ ein – die Anti-Xie Jiao-Organisation für Öffentliche Sicherheit (公安部反邪教组gonganbu fanxie jiao zu), die inoffiziell auch als „Büro 610“ bezeichnet wird und sich auf die Xie Jiao-Gruppen konzentrieren soll. Im November 2000 wurde eine weitere Organisation ins Leben gerufen – die chinesische Anti-Xie Jiao-Vereinigung, die im Englischen für gewöhnlich als „the China Anti-Cult Association” (中国反邪教协会zhongguo fanxie jiao xiehui, abgekürzt CACA) bezeichnet wird. Man sollte zwischen den Regierungsbehörden, deren Namen im Englischen den Begriff „anti-cult“ (Anti-Sekten) beinhalten, und den ausländischen Bürgerrechtsgruppen, die gegen „Sekten“ kämpfen, unterscheiden. Die chinesischen Institutionen richten sich alle gegen Xie Jiao. Offiziell handelt es sich bei CACA um eine ehrenamtliche Non Profit-Organisation. In der Praxis sieht es jedoch so aus, dass die Medien ihre Ankündigungen wie offizielle Regierungsbekanntmachungen behandeln, wie zum Beispiel den Artikel über Xie Jiao-Gruppen auf der Titelseite vom 4. Juni 2014.
Sie haben sich ausführlich mit den Xie Jiao-Listen in China beschäftigt. Wie kam es zur Einführung dieser Listen?
Seit Mitte der 1990er-Jahre wurden illegale und verbotene Gruppen dadurch kategorisiert und kontrolliert, dass sie als Xie Jiao eingestuft wurden. In den 1990ern wurde dann auch eine spezifische Liste erstellt, auf der genau angegeben wurde, welche Gruppen als Xie Jiao eingestuft waren. Diese Liste hat bei den internationalen Medien großes Interesse geweckt. Die erste ausführliche Auflistung beinhaltete auch ausländische Gruppen, wie den Stamm Davids oder Aum Shinrikyo. In dieser ersten Version lag der Schwerpunkt auf potentiell gefährlichen ausländischen Gruppen; Xie Jiao wurde so verwendet, wie anderswo der Begriff „Sekte“. 1995 jedoch wurde die Liste auf bestimmte Gruppen ausgeweitet, die nicht nur für gefährlich, sondern auch für häretisch gehalten wurden. Häretisch bedeutete in diesem Zusammenhang, dass die Gruppen nicht den Doktrinen der fünf offiziell anerkannten religiösen Körperschaften in China folgten – dem Protestantismus, der Drei Selbst-Kirche, dem Katholizismus, dem Buddhismus, dem Daoismus und dem Islam. Viele der nicht anerkannten Gruppen waren im Kleinen entstanden und hatten sich aus protestantischen Traditionen heraus entwickelt; nur eine einzige Gruppe auf der ursprünglichen Liste, die der Höchsten Meisterin Ching Hai, hatte ihren Sitz außerhalb Chinas. Später im gleichen Jahr wurde die Liste noch ausgeweitet und enthielt daraufhin mehr lokale protestantische Gruppen sowie ausländische Gruppen, wie Die Kinder Gottes (Die Familie) oder die Vereinigungskirche. Die Falun Gong-Demonstrationen im Jahr 1999, bei denen sich Tausende von Anhängern um das Regierungsgelände in Peking versammelten, stachelte die Regierung an, ihre Xie Jiao-Politik zu überdenken. Zum ersten Mal wurde eine gut organisierte Gruppe, die von der Regierung unterstützt worden war, als Bedrohung für China, und schlimmer noch, für die KPCh betrachtet. 1998 stufte das Ministerium für Öffentliche Sicherheit Falun Gong als Xie Jiao ein. Um die Bedeutung des Wortes zu klären, wurden Xie Jiao-Organisationen durch einen Gesetzesentschluss im Jahr 1999 offiziell für illegal erklärt. Zu dieser Zeit wurde auch die Anti-Sekten-Einheit „610“ ins Leben gerufen. Im Jahr 2000 führte der Staatsrat diese Entwicklung fort und richtete ein Netzwerk von Büros ein, das für die Xie Jiao zuständig war. 1995 veröffentlichte die Regierung eine aktualisierte Liste mit 18 Xie Jiaos. Dazu gehörten auch die Schreier und die Kirche des Allmächtigen Gottes.
Wie sieht die aktuelle Liste aus?
Am 18. September 2017 wurden auf der neu gestalteten Anti-Sekten (Xie Jiao)-Webseite Chinas wieder die verbotenen Gruppen aufgelistet, die bereits 2014 öffentlich gemacht worden waren. Von den insgesamt 20 Gruppen wurden elf als „gefährlich“ eingestuft: 1. Falun Gong (法轮功), 2. Die Kirche des Allmächtigen Gottes (全能神教会), 3. Die Schreier (呼喊派), 4. Die Jüngervereinigung (⻔徒会), 5. Die Vereinigungskirche (统⼀教), 6. Die Guanyin-Methode (观音法⻔), 7. Blutiger Heiliger Geist (血水圣灵), 8. Die Full Scope-Kirche (全范围教会), 9. Three Grades of Servant (三班仆人派) , 10. Die Wahre Buddha-Schule (灵仙真佛宗), 11. Die Diakonie-Verwaltungsstelle China (中华大陆行政执事站). Außerdem wird die Öffentlichkeit auf der Webseite gewarnt, sich gegen neun weitere Gruppen „zu wappnen“: Die Lingling-Kirche, Der Gesalbte König, Die Kinder Gottes, Die Dami-Mission, die Neue Testament-Kirche, die World Elijah Gospel Mission Society, die Herrgott-Sekte, die Yuandum Dharma Gate und die Kirche Südchinas. Dies lässt darauf schließen, dass es zwei Kategorien von Gruppen gibt: Elf Haupt- („gefährliche“) Gruppen und neun weitere Gruppen–insgesamt also 20.
Was bedeutet es für diese Gruppen, wenn sie auf der Liste stehen?
Die Gruppen, die auf dieser Liste stehen, werden nicht als „Religion“ betrachtet, sondern einfach nur als illegale Organisationen. Diese Liste hat also einen immensen Einfluss darauf, wie neue Religionen wahrgenommen werden. Wer zu einer von den Gruppen auf der Liste gehört, gegen den kann die vollständige Staatsgewalt eingesetzt werden. Nach Artikel 300 des chinesischen Strafgesetzbuchs gilt die „Verwendung“, d.h. die Teilnahme an einer Xie Jiao als Straftat, die mit drei bis sieben Jahren Haft „oder mehr“ geahndet werden kann. Die Schwere dieser Strafe erinnert an die nahezu vollständige Unterdrückung von Yiguandao und anderen religiösen Gruppen in den 1950ern. Wie früher für Yiguandao, gilt heute auch für Falun Gong, dass die Gruppe nur im Ausland, außerhalb des direkten Einflusses der chinesischen Regierung, überleben kann. Die Tatsache, dass sie als illegal angesehen werden, zwingt viele Gruppenmitglieder dazu „in den Untergrund“ zu verschwinden. Letztendlich stellt die Xie Jiao-Liste auch einen Gegenpol zu den genehmigten Religionen dar. Infolgedessen befindet sich jede Gruppe, die nicht zum einen oder anderen Pol gehört, in einer Grauzone der Unsicherheit. Manche Religionsgruppen haben sich darum bemüht, der drohenden Aufnahme auf die Xie Jiao-Liste zu entgehen. Ausländische Religionen, darunter die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und Scientology, haben Gespräche mit der chinesischen Regierung aufgenommen, um ihre friedlichen Absichten klarzustellen. Und schließlich haben die so weit verbreiteten Listen Wissenschaftlern wertvolle Einblicke in die offizielle Politik gewährt und zwar in Hinblick darauf, was als hinnehmbares religiöses Verhalten gilt und was unterdrückt und verfolgt wird.