Gläubige in China müssen immer wieder feststellen, dass ihre Reisen überwacht oder verboten werden. Sie fürchten das soziale Bewertungssystem und den zunehmenden Druck auf ihre Familienangehörigen.
Die Behörden der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) haben flächendeckend persönliche Daten von religiös Gläubigen erfasst. Die landesweite Datensammlung wurde in einer zentralen Datenbank gespeichert und mit einer entsprechenden Datensammlung zu religiösen Versammlungsstätten verknüpft. Befürworter von Religions- und Menschenrechten äußern die Befürchtung, dass diese Daten in Chinas sogenanntes „soziales Bewertungssystem“ integriert und als machtvolle Waffe gegen Gläubige eingesetzt werden könnten.
2014 gab der Staatsrat einen Planungsentwurf für den Aufbau eines sozialen Bewertungssystems (2014-2020) bekannt und führte in verschiedenen Regionen Pilotversuche durch. Das System soll 2020 vollständig implementiert sein. Berichten zufolge werden sämtliche Alltagsaktivitäten in die Bewertung der einzelnen Menschen einbezogen. Wer über die Regierung oder Unternehmen „lästert“, andere im Internet beleidigt oder gefälschte Produkte herstellt oder verkauft, bekommt Punkte abgezogen. Der Punktestand ist ausschlaggebend dafür, ob jemand Reisen außerhalb seiner Großgemeinde unternehmen darf, ob er bei der Arbeit befördert werden darf, ob er ein Haus oder Grundstück erwerben darf und sogar, welche Schule seine Kinder besuchen dürfen.
Die Behörden behaupten, dass dieses soziale Bewertungssystem zu einer „Kultur der Integrität“ führen und „das Vertrauenslevel in der gesamten Gesellschaft“ erhöhen würde. Manche glauben jedoch, dass es nur ein weiteres Hilfsmittel für die Machthaber ist, um die Bürger zu überwachen und die Menschenrechte zu verletzten.
Die nationale chinesische Zeitung Guangming Daily berichtet, dass seit Beginn der Pilotversuche mit dem sozialen Bewertungssystem 7,33 Millionen Menschen keine Flugtickets und 2,76 Millionen Menschen keine Fahrkarten für den Hochgeschwindigkeitszug kaufen durften, weil sie „nicht vertrauenswürdig“ waren.
Diese Reisebeschränkungen treffen auch religiös Gläubige. Abgesehen davon, dass diese Einschränkungen schon an sich eine Schwierigkeit für die Gläubigen darstellen, wirft die Parallele zwischen den Reiseeinschränkungen für religiös Gläubige und für „nicht vertrauenswürdige“ Menschen eine Frage auf: Wurden die von religiös Gläubigen erfassten Daten bereits in das soziale Bewertungssystem aufgenommen?
Der Fall von Li (Name von der Redaktion geändert), einer über 70 Jahre alten Frau, ist ein typisches Beispiel für die Einschränkungen und Schikanen, denen sich Gläubige in Bezug auf Reisen gegenübersehen. Am 3. Oktober 2017 befanden sich Li und ihr Ehemann an einem Bahnhof für Hochgeschwindigkeitszüge, weil sie Verwandte außerhalb ihrer Großgemeinde besuchen wollten, als Lis Name über die Bahnhofslautsprecher ausgerufen und sie aufgefordert wurde, sich umgehend bei der Sicherheitsdienststelle einzufinden.
Als Li dort ankam, musste sie ihr gesamtes Handgepäck öffnen und den Inhalt auf einen Stuhl legen, wo er fotografiert wurde. Außerdem machten die Polizisten Fotos von Li selbst sowie von ihrem Personalausweis und ihrer Fahrkarte. Die Beamten teilten den Eheleuten mit, dass sie sich bei der lokalen Polizeidienststelle melden müssten, wenn sie von ihrer Reise zurückkehrten.
Beim Verlassen der Sicherheitsdienststelle, war es Li peinlich, als sie bemerkte, dass ihre Mitbürger sie misstrauisch beäugten, weil sie sich fragten, warum sie von der Polizei verhört worden war. Auf ihrer Rückfahrt drei Tage später wurde sie erneut gezwungen, diese demütigende Situation zu durchleben.
Als Li sich kürzlich (im September des vergangenen Jahres) auf eine Reise begab, wusste sie bereits, womit sie zu rechnen hatte. Als sie auf den Zug wartete, sah sie einen Sicherheitsangestellten, der ein Foto bei sich trug und nach jemandem Ausschau hielt. Sie trat auf ihn zu und fragte ihn direkt: „Suchen Sie mich?“ Der Sicherheitsangestellte antwortete kleinlaut: „Das ist richtig. Ich suche Sie.“
Der Grund für Frau Lis „Sonderbehandlung“ bestand darin, dass ihre persönlichen Daten vor mehr als zehn Jahren von der Regierung erfasst worden waren, als sie am Gottesdienst einer mit der Lokalkirche (einer christlichen Religionsbewegung in China) verbundenen Hauskirche teilgenommen hatte.
Quellen haben Bitter Winter berichtet, dass die Daten von religiös Gläubigen landesweit flächendeckend erfasst werden. Unsere Reporter haben Kopien von Formularen erhalten, die dazu genutzt werden, jeden Gläubigen zu erfassen. Auf den Formularen werden verschiedene personenbezogene Daten erfragt, darunter:
- Name, Personalausweisnummer, Adresse, Beruf, politischer Status (Parteimitgliedschaft)
- Datum der Konversion/des Beginns einem religiösen Glauben anzugehören; Grund für die Konversion
- Position innerhalb der religiösen Organisation
- Namen und Adressen von Familienmitgliedern und deren Arbeitsplätze mit Adressen.
Alle Angehörigen der staatlich genehmigten protestantischen Drei Selbst-Kirchen und der Hauskirchen sowie katholische, buddhistische und daoistische Gläubige müssen diese Formulare ausfüllen. Die Daten wurden – zumindest bis vor kurzem – in Papierform von lokalen Beamten (meist auf Kreisebene) des Büros für Religiöse Angelegenheiten oder der KPCh gesammelt.
Die Formulardaten in Papierform werden dann von lokalen Beamten in Tabellen zur „statistischen Untersuchung“ zusammengefasst (mit verdichteten Daten über die Zahl der gemeldeten Gläubigen, ihre Altersspanne, ihr Geschlecht, ihre Ausbildung etc.) und danach in die nationale Datenbank eingegeben. Die lokalen Sicherheitsdienste sind dafür verantwortlich, Daten über diejenigen zu sammeln, die Mitglieder von „privaten“, „durch Ausländer infiltrierten“ oder xie jiao (heterodoxe Lehren)-Gruppen sind.
Nach ihrer übergriffigen und beschämenden Reiseerfahrung forderte Li die Regierung dazu auf, die Reisebeschränkungen für sie aufzuheben. Eine Polizistin teilte ihr mit: „Ihr Problem kann nicht so einfach gelöst werden. Die Regierung ist heutzutage sehr streng. Auf die personenbezogenen Daten kann landesweit zugegriffen werden. Sobald der Name eines Christen erfasst wurde, wird dieser überwacht, wohin auch immer er geht.“
Ein weiterer Gläubiger, Lin Feng (Name von der Redaktion geändert), hat eine ähnlich demütigende Reiseerfahrung erlebt. Auch er ist Angehöriger einer Lokalkirche. Seit Ende 2016 ist er vier Mal mit dem Hochgeschwindigkeitszug gereist. Jedes Mal wurde er von der Bahnhofspolizei ausgerufen und fotografiert. Ein Polizeibeamter sagte zu ihm: „Alle, die an Gott glauben, sind ‚gefährliche Elemente‘. Wir müssen Sie befragen, Sie beobachten und Ihre Vorhaben und Bewegungen überwachen. Sie dürfen nur einchecken und in den Zug steigen, wenn das Büro für Öffentliche Sicherheit dies erlaubt.“ Lin Feng muss diese Behandlung nun über sich ergehen lassen, weil er einmal – vor zwölf Jahren – für zwei Wochen inhaftiert war, weil er das Evangelium geteilt hatte.
Mitglieder von Lokalkirchen sind nicht die einzigen, die unter Reiseeinschränkungen leiden, – auch Angehörige von Hauskirchen und anderen religiösen Organisationen werden für Schikanen herausgepickt. So hatte zum Beispiel eine Hauskirche in der Stadt Daqing (Provinz Liaoning) im August 2018 ein Sommercamp organisiert. Die Polizei durchsuchte das Camp und nahm mehrere Studenten fest. Der Kirchenleiter wurde für ein Verhör zur Polizeibehörde beordert. Ihm wurde mitgeteilt, dass er der Drei Selbst-Kirche beitreten müsse – wenn er sich weigere, käme er auf eine schwarze Liste. Er könne dann nicht mehr ins Ausland reisen oder Züge und Flugzeuge im Inland benutzen. Seinen Kindern und allen anderen Besuchern der Hauskirchenversammlungen drohten die gleichen Strafen.
In einem anderen Fall wurde eine Predigerin einer Siebenter Tag Adventisten-Kirche in der Stadt Fengcheng (Liaoning) im Januar 2017 zu zehn Monaten Haft verurteilt. Ihr Verbrechen bestand darin, dass sie angeblich „eine xie jiao-Organisation organisiert und genutzt“ haben sollte, um „die Gesetzesvollstreckung zu untergraben“, obwohl die Siebenter Tag Adventisten-Kirche überhaupt nicht auf der offiziellen Liste der xie jiao-Organisationen verzeichnet ist. Mehrere Monate nach ihrer Entlassung teilten ihr die Behörden mit, dass es ihr verboten sei, mit dem Hochgeschwindigkeitszug, dem Flugzeug oder dem Schiff zu reisen. Sie durfte nur das alte, langsame und unbequeme Eisenbahnnetz benutzen.
Noch ein Beispiel für einen Hauskirchenleiter, der mit Reiseeinschränkungen konfrontiert ist, bildet der Leiter der „Good News“-Kirche in der Stadt Xuzhou (Provinz Jiangsu). Im Februar 2018 erfassten Polizisten, nachdem sie ihn verhaftet hatten, seine persönlichen Daten. Er berichtet, dass er seitdem streng von der Polizei überwacht wird und keine Zugfahrkarten kaufen darf. Im November gelang es ihm, ein Flugticket nach Südkorea zu bekommen – bevor er die Reise jedoch antreten konnte, wurde er von Angestellten des Staatssicherheitsbüros herbeizitiert, die ihm verboten, seine Heimatstadt zu verlassen.
Schikanen und Einschränkungen in Hinblick auf Reisen sind also unter Gläubigen weit verbreitet und sorgen für peinliche Situationen und Schwierigkeiten. Allerdings fürchten manche Prediger, dass die Regierung in ihrer Gier, die Daten aller religiös Gläubigen in ihren Besitz zu bringen, gerade erst mit ihren Unterdrückungsmaßnahmen begonnen hat. „Darauf [auf den Formularen der Regierung] müssen alle personenbezogenen Daten von Christen verzeichnet werden, unter anderem auch Daten ihrer Familienmitglieder“, erklärte ein Prediger Bitter Winter. „Es ist sehr gefährlich, wenn die Regierung solche Daten besitzt. Die Behörden drohen damit, die Arbeitsplätze, die Ausbildung und die Zukunftsaussichten der Angehörigen von Christen zu ruinieren, um diese dazu zu bringen, ihrem Glauben abzuschwören.“
Der unabhängige chinesische Berichterstatter Zhu Xinxin sagte in einem Interview mit Voice of America, dass die nationale chinesische Entwicklungs- und Reformkommission zusammen mit der Zivilluftfahrtbehörde und der chinesischen Eisenbahngesellschaft eine Erklärung herausgegeben habe, nach der es chinesischen Staatsbürgern, die „schwere Gesetzesverstöße“ begangen hätten oder „in Verruf geraten“ seien mit Wirkung vom 1. Mai 2018 „aus gutem Grund verboten“ sei, mit Flugzeugen oder Zügen zu reisen.
Chinesische Dissidenten müssen diesen Preis bereits zahlen. Die Australian Broadcasting Corporation (ABC) berichtet, dass Liu Hu aus dem im Südwesten Chinas gelegenen Chongqing früher einmal ein investigativer Journalist gewesen sei, der Korruption auf höchster Parteiebene aufgedeckt und über mehrere Menschenrechtsfälle berichtet habe. 2017 fand sich Liu Hu als „unehrenhaft“ auf einer schwarzen Liste wieder, die im Rahmen des Pilotprojekts für das soziale Bewertungssystem herausgegeben worden war. Als er versuchte, über eine App auf dem Mobiltelefon eine Fahrkarte nach Xi‘an zu buchen, lehnte die App diese Transaktion ab. Durch das soziale Bewertungssystem wurden seine Reisemöglichkeiten eingeschränkt und er befindet sich praktisch im Hausarrest in seiner Heimatstadt. Liu Hu will die Welt vor dem Albtraum eines sozialen Bewertungssystems warnen, weil er denkt, dass die Mehrheit der Chinesen noch nicht verstanden hat, was sie in einem totalitären Digitalstaat erwartet.
Bericht von Yao Zhangjin