Die in China verbotene und verfolgte Falun Gong-Bewegung wird von den Behörden als typische xie jiao (“heterodoxe Lehre”) beschrieben. Bis 1996 jedoch wurde Falun Gong von der Regierung als positiver Beitrag zu Chinas physischer und moralischer Fürsorge beschrieben. Was ist in den folgenden Jahren geschehen?
In einer vorangegangenen Wochenausgabe hat Bitter Winter den Begriff xie jiao erörtert, der bei der Übersetzung offizieller chinesischer Dokumente, oft fälschlicherweise mit “üble Sekten“ übersetzt wird, obwohl er “heterodoxe Lehren“ bedeutet. Xie jiao-Listen wurden seit der Ming-Zeit geführt und werden von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) seit 1995 wieder aktiv angewendet. In China gilt die Aktivität in einer xie jiao als Straftat. Bewegungen, die als solche eingestuft sind, werden gnadenlos verfolgt.
Heute stellen die Behörden das nicht-christliche Falun Gong sowie die Kirche des Allmächtigen Gottes, einer neuen christlich-religiösen Bewegung in China, als typische xie jiao dar. Falun Gong stand jedoch nicht auf der ersten, 1995 veröffentlichten, xie jiao-Liste: Tatsächlich wurde es bis Anfang 1996 von der KPCh unterstützt und wegen seiner Beiträge zur physischen und moralischen Fürsorge für die chinesische Bevölkerung als positives Beispiel dargestellt. Um zu verstehen, was seitdem geschehen ist, muss man einen kurzen Blick in die Geschichte und die Lehren von Falun Gong werfen.
Qi Gong (气功) gehört zu den traditionellen chinesischen Gesundheitstechniken, die von Sportübungen und Kampfsport bis zu Meditation reichen und darauf beruhen, die Atemenergie, das Qi (气,), zu mobilisieren. In China gibt es tausende kleiner und großer Bewegungen, die Qi Gong lehren und unter der Leitung des wissenschaftlichen Chinesischen Qi Gong-Forschungsverbands stehen(中国气功科学研究会). Wir haben bereits Studien über den “Graumarkt“ der Religionen in China veröffentlicht, die zeigen, dass diese Toleranz und Förderung von Qi Gong auf einem (vielleicht beabsichtigten) Missverständnis beruhten. Während für westliche Wissenschaftler der religiöse Hintergrund von Qi Gong, das sowohl im Buddhismus als auch im Taoismus wurzelt, offensichtlich ist, wurde es in China weniger als Religion, sondern eher als Ausdruck traditioneller chinesischer Wissenschaft und Kultur dargestellt.
Falun Gong (法轮功), auch bekannt als Falun Dafa(法轮大法), war, als es 1992 in Changchun (Jilin) von Li Hongzhi(李洪志) gegründet wurde, eine von vielen Qi Gong-Gruppen und -Bewegungen in China. Die Lebensgeschichte von Li Hongzhi ist umstritten, sie wird von Falun Gong und der KPCh auf unterschiedliche Art erzählt. Es besteht nicht einmal Einigkeit hinsichtlich seines Geburtsdatums in Gongzhuling (Jilin). In früheren Dokumenten steht der 7. Juli 1952, aber Li hat es offiziell auf den 13. Mai 1951 korrigiert, da seinen Angaben nach, das andere Datum auf einem klerikalen Fehler beruhe. Da der 13. Mai 1951 mit Buddhas Geburtstag übereinstimmt, geht die KPCh davon aus, dass Li sein Geburtsdatum aus religiösen Gründen hatte ändern lassen und dass das Datum von 1952 das richtige ist. Der 13. Mai war auch der Tag, an dem Li Falun Gong im Jahr 1992 zum ersten Mal öffentlich präsentierte. Seitdem wird der Tag von den Anhängern als Welt Falun Dafa-Tag gefeiert(世界法轮大法日).. Dieser schicksalhaften Präsentation folgten viele weitere. Li gewann rasch die Unterstützung des wissenschaftlichen Chinesischen Qi Gong-Verbands, der wiederum stolz auf das spektakuläre Wachstum von Falun Gong war. Auch die Zahlen sind umstritten, aber es ist durchaus glaubwürdig, dass Falun Gong zig Millionen Mitglieder bekam. Sowohl in Falun Gong- als auch in KPCh-Dokumenten wird oft von siebzig Millionen Anhängern gesprochen, auch wenn es höhere und niedrigere Schätzungen gibt.
Falun Gong war erfolgreich und beliebt, obwohl dies später von Kritikern geleugnet wurde. Die Menschen fanden, dass es die versprochenen gesundheitlichen Vorteile tatsächlich bewirkte. Millionen von Angehörigen trafen sich morgens und vollführten die fünf grundlegenden Falun Gong-Übungen: Buddha streckt Tausende von Händen aus(佛展千手法), Falun-Pfahlstellung(法轮椿法), Die beiden kosmischen Pole verbinden(贯通两极法), Falun-Himmelskreis und Verstärkung der göttlichen Fähigkeiten(神通加持法). Was den Behörden noch besser gefiel, war Li´s Beharrlichkeit dahingehend, dass diese Übungen nur dann zu den beabsichtigen Ergebnissen führten, wenn sie von einem tugendhaften, moralischen Leben, das auf Wahrheit(真), Mitgefühl und Duldsamkeit beruht(善), begleitet würden (忍).
Die Verbindung zwischen Falun Gong und der Regierung war jedoch, wie bereits erwähnt, von Ambiguität geprägt. Während die KPCh so tat, als glaube sie, dass es bei Falun Gong um Gesundheit und Moral ginge, versprach Li sehr viel mehr – zum Beispiel die Rückführung der Menschen in ihren ursprünglichen, göttlichen Zustand, den sie verloren hätten, als sie auf die Erde gekommen und in den Reinkarnationskreislauf eingetreten seien. Der Name Falun selbst spielt auf ein (buddhistisches) Dharma-Rad an, von dem es heißt, es sei auf mystische Art und Weise in den Leib des Gläubigen eingefügt – dabei handelt es sich wohl kaum um ein weltliches Konzept. Wie auch immer die Regierung Falun Gong nannte, es handelte sich dabei um eine Religion, die auf einer gnostischen Erzählung basiert, nach der Menschen als Gottheiten betrachtet werden, die ihre erhöhte Stellung verloren haben und in einer niedrigeren Welt gefangen sind (und die der Erzählung ähnelt, die in zahlreichen neuen religiösen Bewegungen im Westen vorherrscht).
Natürlich basiert Qi Gong allgemein auf Religion. Dessen wurden sich mit der Zeit die meisten marxistischen KPCh-Intellektuellen bewusst, die daraufhin begannen sowohl Qi Gong als auch Falun Gong in den Medien anzugreifen. Anders als andere Bewegungen organisierte Falun Gong öffentliche Proteste, die anfangs Erfolg zeigten und dazu führten, dass die Medien ihre Veröffentlichungen korrigierten und sich entschuldigten. Im April 1999 veröffentlichte der Wissenschaftler He Zuoxiu(何祚庥) jedoch einen stärkeren Angriff auf Falun Gong in Youth Science and Technology Outlook (青少年科技博览), einer Veröffentlichung der Tianjin Normal-Universität. Wie gewöhnlich versammelten sich die Falun Gong-Anhänger zum Protest, doch diesmal wurden sie von der Polizei festgenommen. Als Protest gegen die Festnahme versammelten sich am 24. April 30 000 Falun Gong-Mitglieder in Zhongnanhai, einem Wohnviertel in Peking, in dem sehr viele KPCh-Anführer leben. Der erstmals so massive Protest überraschte die KPCh und die besorgten Anführer erkannten, dass Falun Gong außer Kontrolle geraten war. Die KPCh bot Verhandlungen an, bereitete jedoch heimlich eine Niederschlagung vor, die im Juli mit der gleichzeitigen Verhaftung von 150 höheren Falun Gong-Leitern eingeleitet wurde, von denen jedoch Li, der seit 1998 in den Vereinigten Staaten lebte, nicht betroffen war. Am 10. Juni 1999 war heimlich das Büro 610 (benannt nach seinem Gründungsdatum am 10. Juni) ins Leben gerufen worden, das mit der Verfolgung der Falun Gong und anderer xie jiao betraut wurde.
Falun Gong wurde tatsächlich in die xie jiao-Liste mit aufgenommen und eine Verfolgungskampagne eingeleitet, die in ihrer Intensität nur mit der Niederschlagung gegen eine andere neue religiöse Bewegung in China – der Yiguandao – in den 1950ern und der Unterdrückung der Kirche des Allmächtigen Gottes seit Mitte der 1990er verglichen werden kann. Bis zum Jahr 2006 waren 100 000 Falun Gong-Mitglieder festgenommen worden – viele von ihnen kamen im Gefängnis durch Folter oder außergerichtliche Tötung ums Leben. Falun Gong prangerte auch die Praxis der „Organernte“ an(器官摘除), d.h. der Entfernung von Organen von lebenden oder dafür getöteten Falun Gong-Anhängern im Gefängnis, um Organe für den blühenden internationalen Schwarzmarkt zu erhalten. Die KPCh hat diesen Vorwurf vehement abgestritten, und erfolgreich internationale Wissenschaftler und Journalisten rekrutiert, die darauf bestehen, dass dies nie geschehen bzw. nach einer Anfangsphase nicht mehr geschehen sei, obwohl Regierungen und internationale Organisationen in ihrer Kritik an Chinas schauderhaften Menschenrechtsbericht auch auf Organernte hinweisen.
Die Zahl der Falun Gong-Anhänger in China wurde stark reduziert, auch wenn jährlich immer noch hunderte Anhänger identifiziert und festgenommen werden. Dennoch wurde die Angelegenheit zum schlimmsten Albtraum für das öffentliche Bild und die öffentlichen Beziehungen Chinas. Falun Gong-Mitglieder verließen in großer Zahl ihre Heimat und gründeten erfolgreich Gemeinden im Ausland, wo sie tägliche Anti-KPCh-Demonstrationen vor chinesischen Botschaften, Konsulaten, oder an Orten, an die chinesische Würdenträger reisten, veranstalteten. Da Falun Gong eine große PR-Professionalität sowohl bei der Präsentation traditioneller chinesische Kultur als auch der Anprangerung der KPCh entwickelte – wozu auch die international bekannten Shen Yun-Shows und ein eindrucksvolles Netzwerk aus Zeitungen und Fernsehsendern gehören –, erfuhr eine breite Öffentlichkeit von der Verfolgung der Bewegung in China und den Anschuldigungen wegen Folter und Organernte an ihren Anhängern durch die KPCh.