Peking hat ein Dokument herausgebracht, in dem behauptet wird, dass es sich bei den „Transformation-durch Bildung“-Lagern in Xinjiang einfach nur um nette Schulen handle. Diese Lügenmärchen sollte keiner glauben.
von Ruth Ingram
Die Wahrheit
Dilshat wurde Zeuge der ersten Runde „freiwilliger Bewerber“ für die sogenannten „Berufsbildungszentren“, alias „Transformation durch-Bildung-Lager“. Von seinem Schlafzimmerfenster aus sah er sie kurz nach Mitternacht in einer bitterkalten Winternacht im Jahr 2016: Er war auf die ungewöhnlichen Vorgänge draußen aufmerksam geworden, weil er auf der Straße Frauen hatte schreien hören. Er machte das Licht in seinem Wohnzimmer aus und zog den Vorhang zur Seite. Durch einen Spalt konnte er die neuesten „bereitwilligen Rekruten“ für die neue Front der Regierung im Kampf gegen „Terrorismus und Extremismus“ sehen. Sie verließen fluchtartig einen fensterlosen Transporter und wurden in der kommunalen Polizeidienststelle zusammengetrieben. Hinter ihnen wurden die Türen zugeschlagen.
Anscheinend waren bereits Verwandte alarmiert worden. Denn bald kamen Menschen und stellten sich mit Plastiktüten, die von Kleidern und vielleicht auch Essen überquollen, vor den verriegelten Türen auf. Damit wollten sie ihre Familienangehörigen unterstützen, die zu so später Stunde aus ihren Betten gezerrt worden waren. Andere, die bereits vor Ort gewesen waren, eilten davon, nur um ungefähr eine Stunde später mit zahlreichen Päckchen für die Festgenommenen zurückzukehren.
Als Eziz in Europa die Geschichte seines Exils erzählt, erzählt er von einem Bild, das er nicht vergessen kann: Ein Raum gefüllt mit verlassenen Kindern, die in dieser Situation gefangen sind und die aus dem Fenster der Polizeidienststelle hinaus starren. „Wir wussten, dass Menschen deportiert wurden, aber ich hatte das noch nie mit eigenen Augen gesehen. Der Anblick jener Kinder – allein in diesem riesigen Raum geht mir seither nicht mehr aus dem Sinn“, sagte er. Es gelang ihm, gerade noch Xinjiang zu verlassen, bevor die Regierung alle Pässe einzog und eine Flucht damit unmöglich wurde.
Die Lügen
Die in dieser Woche erfolgte Veröffentlichung von Pekings Weißbuch, in welcher die „Berufsbildung in Xinjiang“ gerechtfertigt wird, ist bemerkenswert. Peking versucht nicht nur, die Internierung von bis zu drei Millionen Uiguren als „Präventivmaßnahme“ zu rechtfertigen, sondern erwartet auch, dass die Welt glaubt, dass diese Maßnahme gesetzeskonform sei.
Die anerkannte Definition eines Weißbuchs lautet, dass es sich dabei um ein strategisches Dokument handelt, das entweder von einer internationalen Organisation oder von einer Regierung herausgegeben wird. Es beinhaltet Vorschläge für zukünftige Rechtsvorschriften. Pekings ganz eigene Vorstellung eines Weißbuchs „chinesischer Art“ scheint darin zu bestehen, auf die Schnelle rückblickend ein strategisches Dokument zusammenzustellen, das darauf ausgerichtet ist, Kritik von außen abzuwehren und eine Reihe nicht ganz legaler Vorgehensweisen, die bereits umgesetzt wurden, als gesetzeskonform zu rechtfertigen.
Peking hat dieses Jahr bereits zwei solcher „Weißbücher“ fertiggestellt – im Versuch Schaden zu begrenzen und die weltweite Kritik an der Behandlung der Uiguren abzuwehren: „Der Kampf gegen Terrorismus und Extremismus sowie der Schutz der Menschenrechte in Xinjiang“ und „Xinjiang betreffende historische Angelegenheiten“.
Weißbuch oder „Weiße Lüge“?
Dieses aktuellste, sechsteilige Weißbuch beschäftigt sich unter anderem mit der Rechtmäßigkeit der Ausbildungszentren und dem Schutz der Grundrechte der Auszubildenden.
In seiner Propaganda zu den „Transformation-durch Bildung-Lagern“ macht Peking, das deren Existenz zunächst geleugnet hatte, jetzt – nachdem ebendiese Existenz bekannt wurde – eine große Show daraus, diese als freiwillig und legal zu bezeichnen. Qian Jinyu, der leitende Dekan der Menschenrechtsinstitution der Universität für Politikwissenschaft und Recht Nordwestchinas in der Provinz Shaanxi ließ durch das KPCh-Sprachrohr – die Global Times – verkünden, in den Lagern wehe ein „innovativer Geist“ und sie würden ausnahmslos im Rahmen des Gesetzes betrieben.
Xu Jianying, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Chinas Grenzland an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften fügte hinzu, dass die rechtmäßige Organisation der Bildungszentren einer der Kernpunkte des Weißbuchs sei.
Abliz und sein Vater, die um 2:00 Uhr in einer bitterkalten Dezembernacht im Jahr 2018 aus ihrer Wohnung im Stadtzentrum von Urumqi gezerrt wurden, sehen das wahrscheinlich anders. Die Mutter und die beiden Schwestern wurden in ihren Schlafkleidern vor der, mit Klebeband versiegelten, Eingangstür stehen gelassen, während Abliz und sein Vater abgeführt wurden. „Wir hatten nichts. Uns blieb nichts Anderes übrig, als zu Fuß zu einer Freundin zu gehen, die mehrere Kilometer entfernt lebt und sie zu bitten, bei ihr bleiben zu dürfen“, erinnert sich die Mutter, die erst ein Jahr später wieder Kontakt zu ihrem Ehemann hatte – nachdem dieser wegen guter Führung ein Telefongespräch führen durfte. Er ist jedoch weiterhin interniert und der Kontakt ist sporadisch.
Rechtsexperten sagen: „Die KPCh lügt“
Auch Rechtsexperten im Westen sehen das anders.
Das „Bar Human Rights Committee of England and Wales“ untersucht neben zahlreichen weiteren Menschenrechtsskandalen weltweit auch „das außergewöhnliche Ausmaß an Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang (China)“.
Bei einem Treffen des britischen Parlaments in diesem Jahr, erklärten Mitglieder der Organisation, dass Peking sein eigenes Rechtssystem in Misskredit bringen würde, indem es das eigene Volk skrupellos und außergerichtlich einkerkere. Die Schwäche von Chinas Rechtssystem hinsichtlich des Schutzes seiner Bürger und das Fehlen inländischer Anlaufstellen für Rechtsbeistand für Menschen, die fälschlicherweise verurteilt wurden, hat bei den Mitgliedern der Organisation schwere Bedenken ausgelöst. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Massenfestnahmen sogar gemäß chinesischem Recht illegal sind und unter keinen Umständen gerechtfertigt werden können.
Ihre weitere Sorge bezieht sich auf die chinesischen Rechtsanwälte in der VRC (Volksrepublik China), die systematisch davon abgehalten werden, sich für die uigurische Sache einzusetzen. Auch auf die Tatsache, dass es keinen Zugang zu Rechtsbeistand gibt. Diejenigen, die es wagen, sich dem Staat entgegenzustellen, verschwinden für gewöhnlich oder erhalten drakonische Gefängnisstrafen.
Nicole Macbean, Geschäftsführerin von „The Rights Practice“, einer Organisation, die ins Leben gerufen wurde, um den Schutz der Menschenrechte zu verbessern und Regierungen zur Verantwortung zu ziehen, stellte die Rechtmäßigkeit dieser sogenannten Transformation-durch Bildung-Lager nach chinesischem Gesetz in jeder Hinsicht in Frage. „Es ist eindeutig“, sagte sie, dass China sich bewusst dazu entschieden hat, eine große Zahl der eigenen Bürger ohne rechtliche Grundlage zu internieren, was – wie sie sagt – „Bände darüber spricht, wie China mit seinem eigenen Gesetz umgeht.“
Vor einem Forum aus internationalen Rechtsanwälten, Politikern und Menschenrechtsaktivisten, führte sie die große Fülle an Beweisen auf, die von Forschern und Beobachtern gesammelt wurden, um die Masseninternierungen zu beweisen. Sie legte deutlich nahe, dass deren Rechtfertigung durch Peking im Namen des „Kampfes gegen den Extremismus“ völlig an den Haaren herbeigezogen ist. Sie zitierte den stellvertretenden Gebietsgouverneur Xinjiangs, Erkin Tuniyaz, der dieses Jahr vor dem UN-Menschenrechtsrat erklärt hatte, dass die „Berufsbildungszentren“ in Einklang mit dem Gesetz eingerichtet worden seien, um „diejenigen zu bilden und zu retten, die durch religiösen Extremismus beeinflusst wurden und kleinere Rechtsverstöße begangen hatten.“ Sie stellte jedoch seine Aussage in Frage, der zufolge die Lager rechtmäßig seien und jene Personen, die dort festgehalten werden, rechtmäßig festgenommen worden seien.
Sie sagte, dass allein schon die Tatsache, dass die Menschen in den meisten der Zentren wohnen müssen, diese Zentren nach chinesischem Recht illegal macht. „Eine solche Beschulung mit Residenzpflicht ist im chinesischen Strafjustizsystem einfach nicht vorgesehen“, sagte sie. Dass der Besuch der Zentren verpflichtend ist und die Menschen in den Zentren leben müssen, stünde – ebenso wie die Tatsache, dass sie dort Zwangsarbeit leisten müssen – in direktem Widerspruch zu Chinas eigener Gesetzgebung, so Macbean. Sie zitierte Artikel 37 der chinesischen Verfassung, welcher die ungesetzliche Internierung bzw. den Entzug oder die Einschränkung der persönlichen Freiheit der Bürger verbietet. In Artikel 8 der Verfassung steht, dass nur der Nationale Volkskongress, die chinesische Legislative oder deren Ständiges Komitee Gesetze verabschieden dürfen, welche die Freiheit entziehen – und Artikel 9 verbietet es dem Staatsrat und den lokalen Behörden explizit, Verwaltungsvorschriften zum Freiheitsentzug zu erlassen.
Die Polizei ist ermächtigt, Bürger für kleinere Vergehen bis zu 15 Tage festzuhalten. Die Vorschriften zur Deradikalisierung, mit denen versucht wird, die Nutzung der Lager zu rechtfertigen, erlauben lediglich den Bau der Bildungszentren, nicht jedoch den Freiheitsentzug.
Anwälte, die es wagten zu protestieren, wurden gefoltert
„Es gibt sogar chinesische Wissenschaftler, die zugeben, dass die Internierungen in Xinjiang nicht rechtmäßig sind“, erklärte Macbean. Sie fügte jedoch hinzu, dass jeder Anwalt und jede Anwältin, der oder die es gewagt hatte, sich diesem Unrecht entgegenzustellen, entweder umgehend verschwand, ins Gefängnis kam, Folter unterworfen wurde oder seines oder ihres Lebensunterhaltes beraubt wurde. Als 2014 vier chinesische Anwälte versuchten, willkürliche Festnahmen anzufechten, wurden sie festgenommen und gefoltert. Nach einer Razzia im Jahr 2015 und den nachfolgenden gesetzlichen Einschränkungen, die 2016 umgesetzt wurden, wagte es kein Anwalt mehr, diejenigen zu vertreten, die in den Umerziehungslagern interniert wurden.
„Es gibt keine Rechtsverfahren für Anwälte, die Berufung gegen die Internierungen einlegen wollen“, berichtete Macbean, „es scheint so, als ob es keine offiziellen Mitteilungen gegeben hätte, in denen die Familienangehörigen der Internierten über den Grund für die Internierung informiert worden wären, oder Beweise für die Rechtmäßigkeit des Festhaltens oder einen Entlassungstermin erhalten hätten.“ Sie fügt hinzu, dass das Fehlen externer Überwachung in Hinblick auf die Behandlung der Internierten oder die Haftbedingungen besorgniserregend sei. Macbean zeigte sich auch besorgt über die Zahl der Berichte über Tode in der Haft und Beschreibungen von Misshandlungen und Folter.
Die Gerüchte, die im vergangenen Jahr die Runde gemacht haben und in denen es hieß, dass die Zentren legalisiert worden seien, entsprächen einfach nicht der Wahrheit, erklärte sie. Das Anti-Terror-Gesetz Pekings erlaubt lediglich eine Haft von bis zu 15 Tagen. Schwerere Fälle jedoch müssen vor einem Gericht verhandelt werden. Keiner in Xinjiangs Internierungslagern hat einen Prozess bekommen oder hat eine Strafe oder ein Urteil erhalten. „Sie werden alle unrechtmäßig festgehalten“, sagte sie. „Es gibt nie irgendwelche Mitteilungen über die Gründe der Internierung, oder darüber, wer diese bestimmt hat, oder wann die Internierten entlassen werden. Das sind alles willkürliche Festnahmen,“ erklärte Macbean. „Die chinesischen Behörden haben beschlossen, ihre eigenen Bürger ohne gesetzliche Grundlage festzuhalten. Wie rechtfertigt China das?“ fragte sie.
Weitere Lügen im Weißbuch
Das neueste Weißbuch unternimmt große Anstrengungen, um seine Leser mit der Kunst der Doppelzüngigkeit die Sicht zu vernebeln. Es zeigt ein freundliches Gesicht der Regierungspolitik in Xinjiang und will „der Welt helfen, die Politik besser zu verstehen.“ Darin stehen Sätze über „kostenlose Berufsausbildungen“, „Abschlusszeugnisse“, „Chinesisch-Unterricht“ und natürlich die „Religionsfreiheit“ aller Internierten.
Das Weißbuch verweist auf die weithin zugängliche „Berufsbildung“ in Xinjiang und die zahlreichen Menschen, die von dieser Gelegenheit profitieren. In dem Dokument verkündet Peking triumphierend, dass „wieder öffentliche Ordnung und Sicherheit in der Gesellschaft Einzug gehalten haben“ und „Gleichheit, Solidarität und Harmonie zwischen den ethnischen Gruppen und Religionen herrscht.“ „Die Menschen genießen Frieden und Stabilität“, wird dort frohlockt.
Die britische Uigurin Ghuncham Rozi, von welcher zahlreiche Familienangehörige in Xinjiang zusammengetrieben und interniert wurden, wird Pekings Einschätzung der, vor drei Jahren eingetretenen, Situation – seitdem das drakonische System aus Überwachung und Internierung ernsthaft umgesetzt wurde – möglicherweise nicht zustimmen. Sie hatte seit drei Jahren keinen Kontakt zu ihrer Familie, weil diese wegen ihrer Verwandten im Ausland in Angst und Schrecken lebt: „Sie flehten mich an, sie nicht anzurufen“, sagte Rozi verzweifelt.
Nach Angaben des Xinjianger Vorsitzenden Shorat Zakir besuchten in der ersten Hälfte dieses Jahres 75,9 Millionen Touristen Xinjiang. Diesen Erfolg schreibt er der Existenz der Internierungslager zu. Doch der, in London lebende, uigurische Exil-Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Eziz Eysa sprach darüber, welche Kosten diese sogenannte „Harmonie“ für die Menschlichkeit bedeutet. Er erklärte, dass ihn „der Schmerz zerreißt“, den er spürt, weil er von seiner Familie und seiner Heimat getrennt ist und fragt: „Wie lange wird es dauern, bis sich etwas ändert und mein Volk frei sein wird?“
Im Weißbuch brüstet sich Peking ob der großen Zahl an Ländern, die Chinas einzigartigen Ansatz im Kampf gegen den Terror unterstützen – dabei vergisst es jedoch zu erwähnen, dass all diese Länder in wirtschaftlicher Abhängigkeit zu China stehen und so still gehalten werden.
China mag seinen allerletzten Versuch unternehmen, um hinsichtlich seines kulturellen Genozids in Xinjiang schwarz zu weiß zu machen, doch in der freien Welt überzeugt es nur wenig Menschen damit. Am wenigsten die Dilshats, welche die Grausamkeiten selbst gesehen haben, oder die Ablize und Millionen seiner Schicksalsgenossen, die mittlerweile illegal interniert sind. Auch nicht die Ezize und Ghunchams dieser Welt, die im Exil leben und Todesqualen leiden, während sie auf Nachrichten von ihren verschwundenen Angehörigen warten.
Die illegalen Internierungen sind in keiner Hinsicht mit dem Gesetz vereinbar – nicht einmal mit dem chinesischen Gesetz. Niemand sollte sich von dem jüngsten Versuch Pekings in die Irre führen lassen. Peking versucht, das vergangene Jahr des Orwell´schen Wahnsinns neu zu interpretieren.